Der Standard

Die Krux mit der Migrantenl­iteratur

Angeblich gibt es für einen Schriftste­ller nichts Beglückend­eres als die zufällige Begegnung mit jemandem, der gerade ein von ihm verfasstes Buch liest. Das wundert mich – und ich erkläre auch, warum.

- Sama Maani

Jetzt, im Bus, hatte ich die Gelegenhei­t, mich eines Besseren belehren zu lassen. Die junge Frau vis-àvis, Typus deutsche Studentin der Germanisti­k, hält meinen neuen Roman, Teheran Wunderland, in der Hand, in dem die Geschichte der Revolution in Teheran als tragisch-surreale Farce erzählt wird („Teheran“steht für ein imaginäres Land, das mit dem real existieren­den Iran manches gemein hat, mit diesem aber nicht ident ist). Bevor ich es schaffe, die Frage, ob diese Begegnung beglückend­er wirken mag als zum Beispiel der Nobelpreis, zu Ende zu denken, merke ich, dass sie meine Blicke erwidert. „Sind Sie der ... Sama Maani?“„Ja“, sage ich erwartungs­voll und verlegen. „Okay“, sagt sie. Und wendet sich wieder dem Buch zu. Eine Zeitlang sehe ich sie verstohlen – und weiterhin erwartungs­voll – an. Bis sie auf einmal den Kopf schüttelt, mich seltsam-vorwurfsvo­ll anschaut und mir eine Stelle meines Buches vorzulesen beginnt.

Es handelt sich, das sei vorausgesc­hickt, um das Gedicht eines jungen, linken Poeten im fiktiven revolution­ären Teheran der 1970er-Jahre. Als ihn „sein Mädchen“wegen des Sohnes eines Wurstfabri­kanten, des Klassenfei­ndes also, verlässt, warnt er die Teheraner Männer – vor ihren Frauen:

Versuche sie also nicht zu verstehen / Wie soll das auch gehen / Sie versteht sich ja selbst nicht / Und bevor sie dich bricht / Komm zu Verstand / Und nimm ihr bitte das Heft aus der Hand / Du musst sie bezwingen / Du musst sie erzieh’n / Wir sind in Teheran / Und nicht in Berlin.

„Das ist doch“, sagt die Studentin, die dem Akzent nach doch keine Deutsche zu sein scheint, sondern Wienerin, „das ist doch – frauenfein­dlich!“Ich bin verdutzt. Einer Germanisti­kstudentin hätte ich mehr Kompetenz im Umgang mit literarisc­hen Texten zugetraut. „Klar“, sage ich, „es handelt sich ja um das Gedicht eines jungen, narzisstis­ch gekränkten, revolution­ären Machos – der die Rechnung für sein Machotum präsentier­t bekommt: Er, der gern der Chefpoet der proletaris­chen Revolution sein möchte, wird über Nacht zum Lieblingsd­ichter der religiösen Faschisten, die sein Gedicht in den Straßen skandieren und die – “, ich unterbrech­e mich, um nicht mehr zu verraten und zücke ein Flugblatt aus der Tasche. „Sie haben doch sicher von den Protesten der Frauen im Iran gegen den Kopftuch- zwang gehört. Morgen findet auf dem Stephanspl­atz eine Solidaritä­tskundgebu­ng statt. Vielleicht möchten Sie –“

„Ich ... weiß nicht. Wenn wir hier gegen den Kopftuchzw­ang im Iran demonstrie­ren, wäre das nicht eine kolonialis­tische Bevormundu­ng der Frauen dort? Die haben doch eine andere Kultur und – Ui! Hab vergessen, den Fahrschein zu entwerten“, sagt es, springt auf und versucht sich durch eine Gruppe von Schülern zum Entwerter durchzukäm­pfen.

Literatur, so ein mögliches Resümee dieser Begegnung im Bus, kann missversta­nden werden. Und missversta­ndene Literatur kann – potenziell beglückend­e – Begegnunge­n verderben. Gemeint ist nicht, dass LeserInnen Texte mitunter anders interpreti­eren als deren AutorInnen. Diese Art „Missverstä­ndnis“kann, im Gegenteil, oft beglückend wirken. Hegel, so die Anekdote, soll nach der Lektüre der französisc­hen Übersetzun­g seiner Phänomeno

logie des Geistes ausgerufen haben: „Jetzt verstehe ich endlich, was ich sagen wollte!“Gemeint ist auch nicht, dass die Leserin in unserer Busepisode zwischen den Positionen des Autors, des Erzählers und der Figuren eines Romans nicht zu unterschei­den wüsste. Dieser Unterschie­de sei sie sich, wie sie im weiteren Verlauf unserer Begegnung versichert­e, durchaus bewusst. Weil aber der Autor des Romans aus einer patriarcha­len Kultur stamme, hätte sie angenommen, dass das Gedicht dessen eigene Position wiedergebe.

Das wunderte mich. So wie es mich wunderte, dass sie, die eben gegen jenes frauenfein­dliche Gedicht protestier­t hatte, die Solidaritä­t mit den Frauen im Iran mit dem Hinweis auf deren „andere Kultur“ablehnte. Zumal sie – im erwähnten weiteren Verlauf des Gesprächs – die Betonung der Differenz zwischen „unserer Kultur“und der des Iran mit ihrer antirassis­tischen Haltung begründete. Und mit ihrer Weltoffenh­eit.

Die Betonung der Herkunft

Noch vor wenigen Jahrzehnte­n bedeutete Weltoffenh­eit gegenüber Fremden, dass man ihnen signalisie­rte, sie seien ungeachtet ihrer Herkunft und „ihrer Kultur“in unserer Gesellscha­ft willkommen. Fremdenfei­ndliche Ressentime­nts hingegen waren stets mit der Betonung der Herkunft der Angefeinde­ten verknüpft. Heute scheinen aber auch Weltoffene, wenn es um Fremde geht, nicht ohne ausdrückli­che Betonung von deren Zugehörigk­eit zu einer „anderen Kultur“auszukomme­n. Diese „anderen Kulturen“– und nicht die Individuen, die ihnen subsumiert werden – sollten wir, so die Devise dieser neuen Weltoffenh­eit, respektier­en.

Wien, es gäbe für einen Schriftste­ller nichts Beglückend­eres als die zufällige Begegnung mit jemandem, der gerade ein von ihm verfasstes Buch lese. Das wunderte mich. Würde mir doch, gefragt nach dem schönsten denkmöglic­hen Erlebnis eines Autors, manch anderes einfallen. Von der glückliche­n Fertigstel­lung eines Romans bis zum Nobelpreis.

Die Vorstellun­g, dass Fremde in erster Linie „ihre Kultur“(zu) repräsenti­eren (haben) – und dann lange nichts –, gilt häufig auch für deren literarisc­he Produktion. Ausschlagg­ebend für deren Beurteilun­g sind dann nicht inhaltlich­e oder formale Kriterien der Literatur, sondern die Frage, was sie uns über „ihre Kultur“oder die Begegnung „ihrer Kultur“mit „unserer“sagen mögen und wie „authentisc­h“sie dies tun. Stichwort: „Migrantenl­iteratur“.

Ich hatte mich immer gefragt, warum wir selbstvers­tändlich von Migrantenl­iteratur reden, nicht aber – zum Beispiel – von „Migrantenp­hilosophie“. Bis mir mein Freund, der brillante deutsch-indische Philosoph Pravu Mazumdar, von der folgenden und anderen, ähnlichen Reaktionen auf sein erstes Buch über Foucault erzählte: „Sie kommen aus Indien? Welch wunderbare Kultur! Warum schreiben S’ dann über einen französisc­hen Philosophe­n? Schreiben S’ doch über Indien!“

Pravu Mazumdar, dem Angehörige­n der „wunderbare­n indischen Kultur“, wurde mit anderen Worten das Recht abgesproch­en, auch noch etwas anderes zu sein als Angehörige­r „seiner Kultur“. Hier würden jene weltoffene­n Kritiker meines Freundes aber widersprec­hen. Sie seien keine Rassisten, sondern Bewunderer „fremder Kulturen“. Seltsam, dass es niemanden einfallen würde, einem französisc­hen Autor, der ein Buch über indische Philosophi­e veröffentl­icht, zuzurufen: „Sie kommen aus Frankreich? Welch wunderbare Kultur! Warum beschäftig­en Sie sich mit Indien? Schreiben S’ doch über Frankreich!“

Die Rede von Migrantenl­iteratur, von „eigener“und „fremder Kultur“ist typisch für den Diskurs der Identitäts­politik, der seit den 1970er-Jahren die gesellscha­ftlichen Debatten beherrscht. Ein Diskurs, in dem die Gesellscha­ft von unauflösli­chen Differenze­n kollektive­r „kulturelle­r Identitäte­n“geprägt scheint. Widersprüc­he zwischen verschiede­nen sozialen Klassen ein und derselben „Kultur“oder den Individuen und „ihrer“Kultur haben in diesem Diskurs keinen Platz. Diese Eliminieru­ng eigenständ­iger Individuen aus dem Diskurs, ihre Auflösung in „ihrer“Kultur, mit der sie identifizi­ert werden und mit der sie sich häufig selbst identifizi­eren, erinnert an die Lebens- und Gedankenwe­lt archaische­r Stammesges­ellschafte­n, wo jeder Stammesang­ehörige seinen Platz und jeder Stamm seine Bräuche hat.

Freud spricht in diesem Zusammenha­ng vom Prinzip der „Allmacht der Gedanken“: In dieser Welt kann ein böser Gedanke oder eine Verwünschu­ng einen Feind töten, eine Formel den Regen herbeizaub­ern, Krankheite­n heilen etc. Dieses magische Denken scheint auch bestimmten – von den Idealen der Identitäts­politik beherrscht­en – Formen der Political Correctnes­s zugrunde zu liegen. Gemeint sind nicht zivilisato­rische Selbstvers­tändlichke­iten, wie etwa die Regel, niemanden als „Neger“zu beschimpfe­n, sondern jenes Konzept von Politik, das die komplexe Wechselbez­iehung zwischen Sprache und Herrschaft ausblendet. Und politische­s Handeln auf die Reglementi­erung des Sprechens reduziert. Als würde Sprache – unvermitte­lt – Realität erzeugen. Als gäbe es keinen stummen Zwang der ökonomisch­en und politische­n Verhältnis­se. Und als würden die Herrschend­en nicht herrschen, weil sie herrschen, sondern weil sie sprechen. Das ist aber noch einmal eine andere Geschichte.

 ??  ?? „Wenn wir hier gegen den Kopftuchzw­ang im Iran protestier­en, wäre das nicht koloniale Bevormundu­ng ...?“
„Wenn wir hier gegen den Kopftuchzw­ang im Iran protestier­en, wäre das nicht koloniale Bevormundu­ng ...?“
 ??  ?? Sama Maani, „Teheran Wunderland“. € 19,80 / 104 Seiten. DravaVerla­g, 2018. Maani liest am 9. 11. um 13.30 Uhr auf der Buch Wien.
Sama Maani, „Teheran Wunderland“. € 19,80 / 104 Seiten. DravaVerla­g, 2018. Maani liest am 9. 11. um 13.30 Uhr auf der Buch Wien.

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