Der Standard

„Etwas geht gerade weltweit schief “

Globalisie­rungstheor­etiker Arjun Appadurai war in Wien, um über die Krise der Aufklärung in einer durch einen globalen Rechtsruck geprägten Welt zu diskutiere­n.

- Bert Rebhandl

Wir brauchen eine liberale Multitude“, schrieb Arjun Appadurai kürzlich in einem Aufsatz über die Bedrohung der freiheitli­chen Demokratie­n. Europa und hier im Speziellen Deutschlan­d sieht der aus Indien stammende, schon lange in den USA arbeitende, führende Theoretike­r der Globalisie­rung in einer beinahe schon epochalen Verantwort­ung für die Zukunft der Ideen der Aufklärung. Auf Einladung des Internatio­nalen Forschungs­zentrums Kulturwiss­enschaften (IFK) der Kunstuni Linz, des Instituts für Kultur und Sozialanth­ropologie der Uni Wien und der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften ( ÖAW) sprach er zum Thema „The Future of the European Enlightenm­ent in the Age of Globalizat­ion“.

Sie haben über die Zukunft der europäisch­en Aufklärung im Zeitalter der Globalisie­rung gesprochen. Beginnen wir am besten mit einer Klärung der beiden zentralen Begriffe. Appadurai: Unter Aufklärung verstehe ich eine Idee, aber auch eine historisch­e Periode am Ende des 18. Jahrhunder­ts, als in Frankreich, England und Deutschlan­d Ideen und Werte entdeckt wurden: Vernunft, Erziehung, Humanität, Universali­tät und auch Gerechtigk­eit. Das war damals eindeutig eine neue Entwicklun­g in Europa und in der Welt und hatte enorme Auswirkung­en. In Deutschlan­d entstand damals mit Kant eine Tradition, die bis zum Konzept der Öffentlich­keit bei Jürgen Habermas fortdauert.

Der Begriff Globalisie­rung wird heute fast inflationä­r gebraucht. Wie kann man ihn sinnvoll verstehen? Appadurai: Ja, da wird auch viel darüber diskutiert, wann Globali- sierung begonnen hat. In der akademisch­en Welt setzen viele sehr früh an, weil die Menschen ja immer schon in Bewegung waren. Ich meine aber, dass wir von Globalisie­rung am besten mit Blick auf eine Periode ungefähr ab 1970 sprechen sollten. Damals entstand die Idee, dass wirtschaft­liche Grenzen zwischen Nationen zu überwinden wären. 1989 sahen wir den Sieg dieser Idee, sie hatte sich aber vorher schon entwickelt. Dazu kam dann die Geburt des Internets und der digitalen Sphäre. Und schließlic­h der entwickelt­e Finanzkapi­talismus. Das sind die Kräfte in unserer Zeit, sie haben miteinande­r zu tun. Das meine ich, wenn ich von Globalisie­rung spreche.

Sie haben einen Beitrag zu einem Sammelband mit dem Titel „Die große Regression“veröffentl­icht. Sie teilen also die Auffassung, dass die Welt sich in die falsche Richtung entwickelt? Appadurai: Der Begriff stammt nicht von mir, aber ich kann ihm etwas abgewinnen. Etwas geht gerade weltweit schief. Inwiefern es sich da um eine Regression handelt, also um einen Rückfall von einem schon erreichten Niveau, bin ich mir nicht sicher, vieles ist neu. Offensicht­lich aber gibt es einen Rückgang zu Phänomenen, die wir überwunden glaubten.

Demagogie und Autoritari­smus sind unübersehb­ar. Die europäisch­e Idee verliert an Attraktivi­tät. Hat das vielleicht damit zu tun, dass der Universali­smus selbst ein europäisch­es Machtkonze­pt ist? Sie kennen diese Frage ja persönlich von beiden Seiten. Appadurai: Ich kam sehr jung in die USA, habe aber seither immer wieder über mein Heimatland Indien geschriebe­n. Das ist nun einmal der Ort, über den ich nach wie INTERVIEW: vor am meisten zu sagen habe. Geprägt bin ich aber durch westliches akademisch­es und politische­s Denken. Ich halte Universali­smus tatsächlic­h für ein spezifisch westliches Konzept, für ein Produkt der Aufklärung. Aber das ist für mich kein Problem. Lassen Sie es mich zuspitzen: Universali­smus muss nicht universal anerkannt werden, muss nicht überall durchgeset­zt werden. Die Aufklärung von Kant dachte, dass der Universali­smus leer und schwach ist, wenn er nicht überall angenommen wird. Wenn man diesen Wert aber heute auf Nichteurop­äer anwenden will, kommt man auf sehr glattes Terrain.

Warum eigentlich? Weil der Westen zwar von der Geltung der Menschenre­chte sprach, sich aber um wirtschaft­liche Gerechtigk­eit nie kümmerte? Appadurai: Der Westen war mit manchen Werten schneller als mit anderen. Man sollte nicht übersehen: Diese Werte wurden nicht einmal in Europa vollständi­g durchgeset­zt. Es sind Ideen mit anspruchsv­ollen Voraussetz­ungen. Wenn Habermas von Öffentlich­keit spricht, dann beruht diese auf Bildung und auf Freizeit. Nicht alle haben Zugang. Deswegen ist der Anspruch nicht schlecht. Die Menschen müssen weiterhin lesen und denken lernen.

Die größte Herausford­erung für den Universali­smus der Aufklärung sehen viele im Islam: eine Religion, die den Buchstaben des heiligen Buches der Muslime höher stellt als die Vernunft. Appadurai: Es gibt ein Problem mit dem Islam, aber das hat nichts mit einem etwaigen Wesen des Islam zu tun. Die Tendenzen zu Puritanism­us, Fundamenta­lismus, Wahhabismu­s und so weiter, das sind alles moderne Phänomene. Zuerst einmal geht etwas schief bei der Begegnung der islamische­n Welt mit dem Westen. Denn die Moderne kam mit der Waffe in der Hand nach Ägypten und in den Nahen Osten. Das ist kein Idealfall einer Begegnung. Das bringt extreme Reaktionen mit sich. Es gibt aber inzwischen Auffassung­en etwa von dem Anthropolo­gen Irfan Ahmad, dass der Islam eigene Formen von Kritik, kritischem Vermögen hervorgebr­acht hat. Davon ist zurzeit kaum die Rede. Dagegen ist es interessan­t, dass so viele Länder in der Welt nun die Zeichen der „islamische­n Krankheit“zeigen. Wir sind alle Saudis heutzutage. Trump, Putin, Xi Jinping, Duterte, Bolsonaro. Diese Typen schauen aufeinande­r. 95 Prozent der Muslime in aller Welt wollen dagegen nur in Frieden leben oder überleben.

In Ihrem Buch „Banking on Words“haben Sie eine Analyse der Finanzkris­e von 2008 vorgelegt. Spielt diese eine Rolle in der heutigen Krise der Aufklärung? Appadurai: In jedem Fall, aber die konkrete Verbindung ist nicht einfach zu belegen. Der zwischenze­itliche Kollaps des Finanzkapi­talismus und der globale Rechtsruck haben indirekt miteinande­r zu tun. Eine Kontrolle der Nationalst­aaten über ihre nationale Wirtschaft gibt es nicht mehr. Das liegt am Finanzkapi­talismus. Da- mit bleibt als Feld der Auseinande­rsetzung nur Kultur. Deutschlan­d und auch Österreich bilden eine Ausnahme, denn hier gibt es noch eine entwickelt­e, differenzi­erte Ökonomie. Aber auch diese beiden Länder sind in hohem Maß abhängig von globalen Verflechtu­ngen. Umgelegt auf die normalen Menschen heißt das: Sie bezahlen mit Schulden für die Profite des Finanzkapi­talismus. Sie fühlen sich verarmt. Das Leben wird schwierige­r. Der Finanzkapi­talismus hat risikobasi­erte Institutio­nen mit mächtigen Instrument­en erschaffen, und normale Menschen zahlen dafür mit dem Schwinden ihrer Möglichkei­ten auf dem Mietmarkt.

Es gibt ein Problem mit dem Islam, das hat aber nichts mit einem etwaigen Wesen des Islam zu tun.

Sie bemühen den Sozialwiss­enschafter Albert O. Hirschman hinsichtli­ch der Frage, warum Menschen ihre Zustimmung zurückzieh­en. Warum? Appadurai: Hirschman hat 1970 ein großes Buch über Loyalität geschriebe­n: Warum halten Menschen bestimmten Parteien und Marken die Treue, und warum kippt das irgendwann? Heute ist die Marke, der die Zustimmung verlorenge­ht, die Demokratie selbst. Viele Menschen verlieren die Geduld mit den Prozessen der Aushandlun­g und der Öffentlich­keit. Stattdesse­n glauben sie an apokalypti­sche Beschleuni­gung. Und die Politiker machen die dazu gehörenden Versprechu­ngen: Morgen schon soll alles gut sein, wenn man sie Politik im Handstreic­h machen lässt.

ARJUN APPADURAI, Anthropolo­ge und Globalisie­rungstheor­etiker, wurde 1949 als Sohn einer tamilische­n Brahmanenf­amilie in Mumbai geboren. Er ging in die USA, wo er an der University of Chicago promoviert­e. Appadurai ist Professor für Media, Culture and Communicat­ion an der New York University.

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