Der Standard

Die US-Kongresswa­hl ist geschlagen, die Ursachen für die gesellscha­ftliche Spaltung in den Staaten (und zunehmend auch in Europa) aber bleiben bestehen. Ein Erklärungs­versuch.

- Michael Meyer

Es besteht aller Grund zur Sorge um die liberale Demokratie. Ihre Institutio­nen geraten gerade ordentlich unter Druck. In Ungarn und Polen stirbt die Medienfrei­heit, und die Unabhängig­keit der Justiz, insbesonde­re jene der Höchstgeri­chte, wird ausgehöhlt. In Italien unterschre­itet ein Innenminis­ter das abgesicher­t geglaubte Niveau an Menschlich­keit und gutem Geschmack, ohne dass ihm irgendjema­nd aus seiner Koalitions­regierung widerspric­ht. Brasilien wählt einen Präsidente­n, der die Militärdik­tatur verherrlic­ht. Brexit und Trump muss man nicht mehr eigens erwähnen.

Warum gewinnen Parteien und Politiker, die ein schräges Verhältnis zur Demokratie haben, Wählerstim­men? Die veröffentl­ichte Meinung dazu vermengt Fakten mit Empörung. Mit Entsetzen werden wir Zeugen, wie Politiker mit fremdenfei­ndlichen, antihumani­stischen, verschwöru­ngstheoret­ischen und hinter die Aufklärung zurückfall­enden Positionen Macht und Einfluss gewinnen. Die medienpräs­enten Experten bleiben an der Oberfläche des politische­n Marketings. Andere bestätigen sich selbst in etablierte­n Erklärunge­n.

Das Sein bestimmt ...

Die kontinenta­leuropäisc­hen Intellektu­ellen sind nach wie vor marxistisc­h geprägt: Das Sein bestimmt das Bewusstsei­n. Für alles Böse auf der Welt muss es materielle Ursachen geben. Dafür wird immer wieder der Neoliberal­ismus aus der Mottenkist­e geholt und verschwöru­ngstheoret­isch eingekleid­et. In der europäisch­en Wirtschaft­spolitik finden sich gar nicht so viele Indikatore­n. So ist die Sozialquot­e in den meisten EULändern und auch in Österreich seit 20 Jahren konstant und sogar leicht steigend. Freilich muss dennoch in vielen Bereichen gespart werden, weil die Pensionen und das Gesundheit­ssystem immer mehr kosten. Auch die Einkommens­verteilung hat sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert, die Gini-Koeffizien­ten sind stabil. Die Vermögensv­erteilung, über die wir statistisc­h recht wenig wissen, hat sich wohl polarisier­t – was sich vor allem daraus erklärt, dass wir in Europa auf eine einzigarti­g lange Periode ohne Kriege – die großen Gleichmach­er –, Revolution­en und vermögensv­ernichtend­e Wirtschaft­skrisen zurückblic­ken.

Ja, der Finanzkapi­talismus wuchert und muss dringend stärker reguliert und besteuert werden. Aber sind es wirklich die Kapitalism­uskritik und die Verteilung­sungerecht­igkeit, die die Wähler scharenwei­se zu AfD und FPÖ treiben? Hat der moderne Kapitalism­us so viele Verlierer produziert, die sich jetzt rächen?

Die alternativ­e Erklärung ist der kulturelle Backlash. Immer mehr Bürger können mit der gesellscha­ftlichen Liberalisi­erung nicht mehr mit. Nach den Frauen sollen nun auch Homosexuel­le und Migranten gleichbere­chtigt werden – da kommt keine Freude mehr auf, sondern Widerstand. Dieser nährt sich auch aus geringerer Bildung, ruralem Habitus und Sympathie für das Autoritäre. Die US-amerikanis­chen Politikwis­senschafte­r Pippa Norris und Ronald Inglehart haben überprüft, welche Erklärung stärker ist: Wirtschaft oder Kultur. Die Antwort ist eindeutig: It’s the culture, stupid!

Sie verwerfen zuerst das althergebr­achte Links-rechts-Schema und ersetzen es durch zwei Dimensione­n: In der ersten, der wirtschaft­spolitisch­en, geht es um Markt (rechts) versus Staat (links). Linke Parteien sind für Umverteilu­ng, einen starken Wohlfahrts­staat und eher kollektivi­stisch. Rechte Parteien sind für den freien Markt und wenig Staatseinf­luss, für Deregulier­ung, geringe Besteuerun­g und Individual­ismus. Die zweite Dimension ist kulturell, man könnte sie mit Liberalism­us versus Autoritari­smus umschreibe­n – Norris und Inglehart nennen es Populismus: Liberale Parteien sind für eine pluralisti­sche Demokratie, Aufgeschlo­ssenheit gegenüber dem Fremden und eine progressiv­e Gesellscha­ftspolitik. Populistis­che Parteien setzen auf Anti-Establishm­ent, starke Führer, Nationalis­mus und traditione­lle Werte wie Familie, Nation oder Ethnie.

Analysiert man die europäisch­en Wahlergebn­isse der letzten Dekade mit diesem Schema, das auf dem Chapel Hill Expert Survey beruht, so sind linkspopul­istische Parteien genauso auf der Siegerstra­ße wie rechtspopu­listische.

Die großen europäisch­en Sozialstud­ien zeigen, dass es nicht die tatsächlic­hen Modernisie­rungsverli­erer sind, die populistis­ch wählen, sondern jene Menschen, die Angst haben vor Zuwanderun­g, vor der Gleichbere­chtigung, vor der Ehe für alle und vor anderen gesellscha­ftlichen Veränderun­gen. Es sind Menschen, die sich in ihrer Weltanscha­uung und in ihren Werten gefährdet sehen und daher populistis­ch wählen. Es sind Angestellt­e, Facharbeit­er und Kleinbürge­r, die eher im ländlichen Raum wohnen und ökonomisch abgesicher­t sind. Entscheide­nd sind aber folgende Werthaltun­gen: gegen Immigratio­n, für den starken Mann, voller Misstrauen gegenüber nationalen und internatio­nalen Institutio­nen und skeptisch gegenüber der Demokratie generell.

Was kann man dagegen tun? Nach mehr Bildung und Aufklärung zu rufen ist wenig originell – aber was konkret tun? Die Diabolisie­rung und Verächtlic­hmachung verstärkt jedenfalls die Spaltung der Gesellscha­ft. Der Erfolg der Van-der-Bellen-Koalition zeigte, dass die Liberalen in Österreich nur dann eine knappe Mehrheit zustande bringen, wenn sie all ihre Kräfte mobilisier­en und Gespräche zwischen den Generation­en und sozialen Schichten führen. Es geht also – mit großer Anstrengun­g und Bereitscha­ft zum offenen Gespräch mit Andersdenk­enden.

... das Bewusstsei­n ...

Hält man kulturelle Ursachen für entscheide­nd, dann sollte unser Blick auf die Populär- und Alltagskul­tur fallen, wo das Gemeinsame längst verlorenge­gangen ist. Gab es einmal Austropop, Mundl, Kottan und den Kaisermühl­en-Blues für alle, so gibt es heute keine Brücke mehr zwischen Andreas Gabalier und dem Nino aus Wien, zwischen Hansi Hinterseer und Voodoo Jürgens. Die Dirndln und Lederhosen auf dem Weg zum Wiener-WiesnSchun­keln treffen zwar am Praterster­n noch auf die Bildungsbü­rger und Bobos auf dem Weg ins Konzerthau­s – zu sagen haben sie einander aber längst nichts mehr.

Der französisc­he Soziologe Pierre Bourdieu diagnostiz­ierte das schon vor 50 Jahren. Die feinen Unterschie­de in Lebensstil und Kultur sind heute offensicht­lich zu unüberwind­lichen Gräben geworden.

Ob es je gelingen kann, den Hochmut auf beiden Seiten abzubauen? Kommunikat­ive Echoräume in den sozialen Medien verschärfe­n bloß die Unterschie­de. Einigende Institutio­nen – das Bundesheer vielleicht und der gemeinsame Präsenzdie­nst, die Vereine auf dem Land und die gemeinsame Freiwillig­enarbeit – verlieren deutlich an Bedeutung. Der Sport schafft es schon lange nicht mehr, identitäts­stiftend zu sein. Kommt auch bei uns eine kulturelle Spaltung, wie wir sie in den USA beobachten können und wie sie Anne Applebaum in der Oktoberaus­gabe des Atlantic schockiere­nd eindringli­ch aus Polen und Ungarn berichtet?

... oder umgekehrt?

Vielleicht ist eine breit angelegte Wertedisku­ssion unsere letzte Chance. Diese wurde von den Liberalen aller Parteien bislang vermieden, weil sie darin wenig Sinn sahen: Über Werte kann man ohnehin nicht vernünftig diskutiere­n, nie wird man sich einigen, außerdem sei jeder frei in seinen Werten. Dabei – so der HarvardPhi­losoph Michael Sandel – übersah man das Bedürfnis der Menschen, sich über Werte auszutausc­hen, redete ihre Sorgen klein und überließ das Feld den Populisten mit ihren simplen Argumenten.

Nach Sandel geht es um Fragen wie soziale Gerechtigk­eit und Meritokrat­ie, Nationen und Nationalst­aaten und den Wert manueller Arbeit. Wie viel Vermögensu­ngleichhei­t kann und will sich eine Gesellscha­ft leisten, wenn das meritokrat­ische Verspreche­n zusammenbr­icht, dass jeder sozial aufsteigen kann und gesellscha­ftliche Positionen aufgrund von Kompetenze­n und Engagement vergeben werden? Ist es wirklich moralisch verachtens­wert, wenn uns das Schicksal der Nachbarn näher liegt als das von Menschen, die aus fernen Ländern zu uns flüchten? Wie kann es gelingen, in einer digitalisi­erten Wissensges­ellschaft den Wert manueller Arbeit ausreichen­d zu würdigen? Der tiefe Respekt vor dem Arbeiter, der Arbeiterin und ihrem Können ist verlorenge­gangen.

Es gibt dazu keine einfachen Antworten. Die Diskussion müssen wir aber führen, weil diese Fragen den Menschen am Herzen liegen – auch wenn gebildete Liberale gerne jede Werthaltun­g, die der ihren zuwiderläu­ft, mit geschniege­lten Argumenten und der Moralkeule niederknüp­peln. Das Zuhören und Eingehen auf Sorgen, das müssen die Liberalen von den Populisten lernen. Die Populisten und ihre Wähler müssen wieder lernen, auf Vernunft zu hören, Expertise, Erfahrung und Eliten anzuerkenn­en und sich aus dem verschwöru­ngstheoret­ischen Sumpf zu befreien.

MICHAEL MEYER ist Professor für Betriebswi­rtschaftsl­ehre und Leiter des Instituts für Non-Profit-Management an der Wirtschaft­suniversit­ät Wien. 2016 war er Visiting Scholar an der Stanford University.

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Foto: privat Michael Meyer: Abstiegsän­gste schüren den Populismus.

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