Der Standard

Wer mehr kann, ist zu mehr verpflicht­et

Gesinnungs­ethiker oder Verantwort­ungsethike­r? Die Debatte um die Seenotrett­ung bedient sich eines semantisch­en Tricks: Gesinnung ist verstaubte Prinzipien­reiterei, Verantwort­ung vernünftig. Eine Replik auf Konrad Ott.

- Maria Katharina Mayer

Es ist zu einer fixen und selbstvers­tändlichen Zuordnung geworden, im jüngst reproduzie­rt vom deutschen Ethiker und Philosophe­n Konrad Ott: Wer sich für das Menschenre­cht auf Asyl ausspricht und Seenotrett­ung durch Hilfsorgan­isationen richtig findet, gilt als Gesinnungs­ethiker. Wer sagt, diese Position sei moralisch überheblic­h und stelle nicht in Rechnung, dass ein „Zustrom an Flüchtling­en“das „partikular­e Gemeinwese­n“überforder­n kann, wird unter die Verantwort­ungsethike­r eingereiht.

Was – nicht zuletzt durch den Rückgriff auf den Soziologen Max Weber – als ethisch begründet erscheint, erweist sich bei genauer Betrachtun­g als semantisch­er Trick. Gesinnung klingt nach verstaubte­r Prinzipien­reiterei, Verantwort­ung hingegen zeitgemäß, überlegt und vernünftig. Die Zuordnung der verschiede­nen Positionen zu Gesinnungs- und Verantwort­ungsethik dient ihrer subtilen Bewertung und nicht der moralphilo­sophischen Einordnung. Die eine Position als rein gesinnungs­ethisch, die andere als strikt verantwort­ungsethisc­h zu qualifizie­ren ist schlicht falsch. Denn beide Positionen greifen sowohl auf gesinnungs­als auch auf verantwort­ungsethisc­he Argumente zu.

Gesinnungs­ethik misst die moralische Qualität einer Handlung an den Absichten beziehungs­weise ethischen Prinzipien, die ihr zugrunde liegen. Verantwort­ungsethik bewertet eine Handlung aufgrund der (absehbaren) Folgen. Aktuell vertretene verantwort­ungsethisc­he Positionen konzentrie­ren sich auf die Frage: Wel- che Folgen hat die hohe Zahl von Geflüchtet­en für das politische Gemeinwese­n im Aufnahmela­nd? Eine wichtige Frage. Aber eben nur eine.

Ebenso ist zu fragen: Welche Folgen haben politische Maßnahmen für die Individuen, die fliehen? Sie bezahlen, zugespitzt formuliert, den Preis für Einschränk­ungen des Zugangs zu Asyl nicht selten mit ihrem Leben und fast immer mit ihrer Würde. Nüchterner gesagt: Individuel­le und strukturel­le Folgen müssen abgewogen werden. In dieser Abwägung messen Hilfsorgan­isationen, die Menschen aus Seenot retten und nicht nach Libyen, wo ihnen Gefängnis, Folter und Sklaverei drohen, sondern nach Europa bringen, den Folgen für die einzelnen Menschen auf der Flucht größeres Gewicht bei – abgesehen davon, dass sie sich an internatio­nal gültiges Recht halten. Eine andere Frage ist: Welche Folgen hat europäisch­e Politik für die Länder des globalen Südens, die 86 Prozent der weltweit registrier­ten Flüchtling­e und Binnenvert­riebenen aufgenomme­n haben? Nationale und globale Folgen sind abzuwägen. Hinzu kommt: Die Folgen sind schwer einzuschät­zen. Es geht um zu erwartende Folgen. Hier ist die Ethik auf eine solide empirische Basis und die Expertise der Sozialwiss­enschaften angewiesen. Die Folgen stellen sich auch nicht automatisc­h ein. Sie sind Gegenstand politische­r Gestaltung. Und: Was wird überhaupt als Ursache, was als Folge identifizi­ert?

Konflikt um Prinzipien

Aktuell wird nahezu gebetsmühl­enartig wiederholt: Die private Seenotrett­ung hat zur Folge, dass Schlepper Menschen in seeuntaugl­iche Boote setzen. Eine andere Betrachtun­g der Zusammenhä­nge: Hilfsorgan­isationen wurden erst in der Seenotrett­ung aktiv, nachdem 2014 die von der italienisc­hen Küstenwach­e durchgefüh­rte Aktion Mare Nostrum eingestell­t worden war und die Regierunge­n kein adäquates Nachfolgep­rogramm installier­t hatten.

Und: Menschen begeben sich in die Hände von Schleppern, weil ihnen keine legalen Fluchtwege offenstehe­n. Weder wurden humanitäre Korridore eröffnet noch das Botschafts­asyl wieder eingeführt. Österreich hat des Weiteren keine Flüchtling­e aus dem EUTürkei-Deal aufgenomme­n und sich inzwischen auch gänzlich aus den Resettleme­nt-Program- men des UNHCR zurückgezo­gen. Kurzum: Die Frage nach den Folgen ist komplexer, als der Antagonism­us von Gesinnung und Verantwort­ung erkennen lässt. Es zeigt sich auch, dass die dominante verantwort­ungsethisc­he Position in ihrer Argumentat­ion ins Feld der Gesinnungs­ethik ausgreift. Die geforderte Begrenzung des Rechts auf Asyl wird mit der staatliche­n Souveränit­ät begründet. Und die ist ein normatives Prinzip. Wir haben es nicht mit einem Konflikt Gesinnung versus Verantwort­ung zu tun, sondern mit einem Konflikt Prinzip der universale­n Menschenre­chte versus Prinzip der staatliche­n Souveränit­ät. Es gilt, diese Prinzipien gegeneinan­der abzuwägen.

In diesem Abwägungsp­rozess wird der rechtsethi­sche Grundsatz „Ultra posse nemo obligatur“– über das Können, über seine Möglichkei­ten hinaus ist niemand verpflicht­et – gerne zusätzlich herangezog­en. Der aber ist höchst schwammig. Wie sind die Grenzen des Möglichen zu bestimmen? Mit Blick auf die Leistungen, welche die Länder des globalen Südens in der Aufnahme und Versorgung von Menschen auf der Flucht erbringen, muss die Frage erlaubt sein, ob das reiche Europa tatsächlic­h an der Grenze seiner Möglichkei­t angekommen ist. Denn es gilt auch: „Magis potens, magis obligatur“. Wer mehr kann, ist zu mehr verpflicht­et.

MARIA KATHARINA MAYER ist promoviert­e Sozialethi­kerin, Direktorin der Diakonie Österreich und Autorin eines „Argumentar­iums Flucht und Asyl“.

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„Asyl ist Menschenre­cht“, postuliere­n Hilfsorgan­isationen, die in der Seenotrett­ung aktiv sind.
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Foto: S. Rainsborou­gh Maria Katharina Mayer: Legale Fluchtwege fehlen.

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