Im Sumpf der Gesetzlosen
Das britische Studio Rockstar Games hat für das Westernspiel „Red Dead Redemption 2“beispiellosen Aufwand betrieben. Entwicklungsbudget: geschätzte 600 Millionen Dollar. Ein Pflichtspiel für Genrefans?
In Red Dead Redemption 2 (RDR2) wird man zu dem Outlaw Arthur Morgan, der sich im Jahr 1899 als Teil der Van-derLinde-Gang auf der Flucht vor Bundesagenten und Kopfgeldjägern und auf der Suche nach einem Land frei von Gesetzen befindet. So darf man sich in einem gewaltigen Minimundus des Wilden Westens horrender Verbrechen bedienen, um der Zivilisierung des Landes zu entkommen. Ein Open-World-Action-Blockbuster, der mit beispiellosem Entwicklungsaufwand realisiert wurde und seine Spieler dutzende Stunden durch einen zermürbenden Raub- und Mordzug peitscht.
Atemraubende Outlaw-Welt
RDR2 schafft es besser als jedes andere Spiel bisher, eine glaubhafte, lebendige Welt zu simulieren, deren enorme Dimensionen ebenso imponieren wie die mannigfachen Facetten. Auf die eisigen Gipfel des Nordens haben sich die letzten Ureinwohner zurückgezogen. In der Prärie suchen Farmer ihr Glück. Im Osten schuften in Kohlebergwerken Tagelöhner, deren Familien die Kannibalen des Waldes fürchten. Im Westen lässt der Reichtum erste Ziegelstädte aus dem Boden sprießen, und im Süden verpesten illegale Schnapsbrennereien ebenso die Sümpfe wie die Schlote des Sündenpfuhls Saint Denis.
Morgan wirft sich für Anführer Dutch Van der Linde in ein Feuergefecht nach dem anderen. Er gerät zwischen die Fronten ehemaliger Sklaventreiber, überfällt Banken und Züge und nimmt es mit korrupten Politikern und Ölmagnaten auf. Das ist der zugespitzte amerikanische Albtraum, der die Prachtkulisse mit jedem weiteren Coup stärker erodiert. Mit dem Rücken zur Wand werden die Bandenmitglieder zusammengeschweißt. Ein drogensüchtiger Prediger, eine rachsüchtige Witwe, ein Revolverheld mit Kind und Ehefrau, ein Exsoldat und viele weitere – fast alle erzählen mitreißende Geschichten, wachsen einem ans Herz oder gehen einem auf die Nerven und lassen einen immer tiefer in die Ausweglosigkeit schlittern.
Verwöhnt werden dabei Auge, Ohr und Neugier – durch eine von Hand gemeißelte Landschaft, Herzschmerz-Countrymelodien und durch die entschleunigende und in Gestalt von Grizzlys und Alligatoren dargestellte gefährliche Schönheit der Tierwelt. Anstatt die Karte mit virtuellen Touristenattraktionen zu überladen, wird es den Spielern überlassen, die Geheimnisse dieser Welt zu lüften. Mit fast jedem Bewohner darf man interagieren und wird so nicht nur in nervenaufreibende Duelle verstrickt, sondern auch in witzige Dialoge, oder man besucht Feste am Lagerfeuer, spielt auf einem Kasinodampfer Poker oder nimmt im Hotel ein Vollbad. Ein winziger Funken Erotik in einem ansonsten lichterloh brennenden Outlaw-Fegefeuer, in dem auch Tiere als Nahrungs- und Einkommensquelle nicht verschont bleiben. Gleichzeitig ist es die pure Huldigung von Pferden als Menschenfreunden.
Spürbarer Verfall
Der minutiös gezeichnete Verfall wird an Morgans Antlitz eben- so ersichtlich wie an der Niederringung des Spielers selbst. Eine Realitätsversessenheit, die nicht jedem Gemüt gefallen wird. Unzählige Stunden verbringt man auf seinem Pferd und sucht in der Wildnis neben umwerfenden Naturschauspielen schon bald nach Schnellreisemöglichkeiten und ärgert sich, dass man nicht über das Menü die Orte wechseln kann. Morgan verkommt dabei zwar nicht zum Tamagotchi, dennoch muss man alle paar Tage ans Essen und an die Pflege seiner selbst, seines animalischen Begleiters und seiner Waffen denken. Erledigte Widersacher sollten nach Geld, nützlichen Gegenständen, Heiltränken und Snacks durchsucht werden.
Denn RDR2 ist ein kräftezehrendes und materialverschleißendes Abschlachten tausender Gegner. Die eigentlichen Missionen, die in ihrer Vielfalt zwar gut gestreut sind, werden gerade in den zahlreichen größeren Showdowns nicht selten zum Hamsterrad alt- hergebrachter Mechaniken, die die spielerische Freiheit zu einem abrupten Ende bringen. Ob metaphorisch beabsichtigt oder ein technischer Kompromiss: Manche Widersacher sind so übermächtig, dass sie in Unendlichkeit erhaben sind. Die wohl ebenso beabsichtigte Trägheit des Animationssystems, die auf Bewegungsrealismus abzielt, wirkt dabei wie die Schwerkraft, die Morgan trotz Zeitlupenmodus und Schnellfeuerkünsten auf den Boden der Tatsachen drückt. Ohne Zielautomatik ist man sowohl im Sattel als auch aus der Deckung heraus der aus allen Richtungen ballernden Gegnerschar kaum gewachsen.
Fazit
RDR2 ist ein zukunftsweisender Meilenstein im Open-WorldGenre. Dabei wurde auf massenmarktübliche Weichspülung verzichtet. Man wird als Spieler stattdessen durch ein Drama gejagt, das man als Westernfan irgendwie gespielt haben muss – selbst wenn man danach am Boden zertrümmert feststellt, dass man es lieber nicht gespielt hätte. Denn jedes Quäntchen Hoffnung dieses so verlockenden Revolverheldentraums wird mit schwerer Verbitterung aufgewogen.