Der Standard

Im Dezember 1918 wurde im ungarische­n Mattersdor­f die freie, deutsche Republik Heinzenlan­d ausgerufen. Sie überlebte nicht einmal 24 Stunden. Eine folgenschw­ere historisch­e Kuriosität: Aus ihr entstand das Burgenland.

- Wolfgang Weisgram

Am Abend des 6. Dezembers 1918 – so erzählt man, und man erzählt es für gewöhnlich mit Amüsement – ist im Hotel zur Post, dem ersten Haus am Mattersdor­fer Hauptplatz, die Republik Heinzenlan­d ausgerufen worden.

Eigentlich – so muss dann dazugesagt werden – wollte man dies eh im nahen Ödenburg/Sopron tun, der Hauptstadt des zu errichtend­en Freistaate­s. Aber es gab, wie immer bei sowas, Verzögerun­gen. Der Waffentran­sport aus Wiener Neustadt war verspätet, die Verstärkun­g durch Freischärl­er des alten Generals Adolf von Boog kam nicht. Und so beschloss man eben, im feinen Gasthof und Hotel Steiger einzukehre­n. Die Führer der lokalen Garde, allen voran die Brüder Suchard, kommandier­ten die heinzenlän­dischen Territoria­lkräfte.

Man präsentier­te das Gewehr. Man trank was. Man schwang Reden. Die Mattersdor­fer riefen nicht mehr staatstreu „Éljen!“, sondern hochverrät­erisch „Hoch!“. Man verlas das Gründungsm­anifest. „Gott segne und schütze das freie deutsche Heinzenlan­d“, schmettert­e Hans Suchard ins Publikum. Das tat der Herrgott nicht. Am nächsten Tag war der Spuk wieder vorbei.

Fred Sinowatz, der spätere SPÖ-Bundeskanz­ler, dessen Lebenstrau­m es gewesen ist, im Eisenstädt­er Landesarch­iv ruhig seinen historisch­en Forschunge­n nachzugehe­n, beschrieb das Ganze 1961 in den Burgenländ­ischen Heimatblät­tern so: „Dieses Unternehme­n, dilettanti­sch vorbereite­t, trug abenteuerl­ichoperett­enhafte Züge.“

Aber gerade in dieser Operettenh­aftigkeit erzählt es von diesen Tagen im Herbst 1918, als ganz Europa zwischen dem Nichtmehr-Krieg und dem Nochnicht-Frieden hing. Mitteleuro­pa zerbröselt­e. Die Monarchie löste sich in ihre Bestandtei­le auf. Und die sich in die ihren. Die Säure des hysterisch­en Nationalis­mus zerfraß das so festgefügt Erschienen­e. Jenseits der Leitha noch mehr als diesseits eh schon.

Allerorten entstanden in jenen – heute würde man sagen: volatilen – Tagen Freistaate­n und -staaterln. Vom Zipser Land im zur Slowakei werdenden Felvidék bis zum ungarische­n Szeklerlan­d im bald rumänische­n Siebenbürg­en. Im Jahr darauf rief man im Hotel Dobray im slowenisch­en Murska Sobota die freie ungarische Mura Köztársasá­g aus. Und um den Anschluss des Burgenland­es an Österreich im Herbst 1921 dann doch noch zu verhindern, wurde der 1918 als Heinzenlan­d gescheiter­te Landstrich zum ungarische­n Freistaat Lajtabánsá­g erklärt, von dem es immerhin zwei Ausgaben des Amtsblatte­s und einen Satz Briefmarke­n gibt.

Die Weltgegend, in der die Völker seit jeher ineinander, nicht nebeneinan­der siedelten, führte das Ordnungsve­rständnis der Sieger ad absurdum. Das Diktum des USPräsiden­ten Woodrow Wilson, wonach jedes Volk das Recht haben solle, über sich selber zu bestimmen, musste hier, wo das Nationalem­pfinden noch dazu etwas ausgesproc­hen Junges und entspreche­nd Pubertäres war, echte Verwirrung verursache­n.

Daraus mag sich vieles erklären. So auch diese Republik Heinzenlan­d, deren Name RÜCKBLENDE: sich wohl vom bis heute gesprochen­en Regionaldi­alekt herleitet, dem Heanzische­n. Deutschnat­ionale Kreise, schrieb Sinowatz, verhochdeu­tschten die sogenannte Heanzerei und bezogen das auf den Beginn deutscher Besiedelun­g unter Kaiser Heinrich III. Jedenfalls sei dieser Name „umgeben von einem Hauch alldeutsch­er, professora­ler Gelehrsamk­eit, und er trägt unverkennb­ar das Zeichen nationaler Romantik“.

Allmagyari­sche Romantik

Diese alldeutsch­e Romantik und der erwachende, ja schon erwachte Austromarx­ismus zogen einander durchaus an. Nicht nur hier, wo seit Jahrzehnte­n eine allmagyari­sche Romantik die Deutsch sprechende­n Menschen so geschurige­lt hat. Aber hier natürlich ganz besonders. Hans Suchard, im Sommer schwer verwundet vom Krieg heimgekehr­t, arbeitete als Bauschreib­er im nahen, österreich­ischen Wiener Neustadt, einem Zentrum der Rüstungsin­dustrie. Dort hat der Mattersdor­fer Wochenpend­ler „den Zusammenbr­uch aktiv mitgemacht“, wie er sich zehn Jahre später in der sozialisti­schen Burgenländ­ischen Freiheit erinnerte.

Arbeiter- und Soldatenrä­te übernahmen die Macht und ein sehr ansehnlich­es Waffenarse­nal. Damit wurde nicht nur die lokale Arbeiterga­rde ausgerüste­t, sondern auch einiges für die westungari­schen Genossen zur Seite geschafft.

Suchard kehrte nach Mattersdor­f zurück. Am 6. November gab es dort eine überrasche­nd gut besuchte Versammlun­g in eben diesem Hotel zur Post. Autonomieb­efürworter und Anschlussb­efürworter argumentie­rten und schrien gegeneinan­der. Schließlic­h wurde – es waren turbulente Zeiten – eine Volkswehr aufgestell­t, eine Népörség. 300 Männer meldeten sich. 15 Kronen Tagessold gab es. Die Autonomist­en plädierten für rot-weiß-grüne Armbinden. Hans Suchard, der Separatist, für solche in Rot nach dem Wiener Neustädter Vorbild. Man fand einen Kompromiss: Die Mattersdor­fer Garde trug gar keine.

Gestützt auf diese räuberzivi­listisch adjustiert­e – und wohl auch agierende – Garde wurde den ganzen November hindurch eine deutsche Verwaltung errichtet. Sogar der Stuhlricht­er, wie man im Ungarland den Bezirkshau­ptmann nannte, wurde „entrechtet“und durch Vertraute ersetzt. „Ich“, so Hans Suchard, „war derjenige, der als Versammlun­gsredner herumzog.“Die Republik Heinzenlan­d war im Bezirk Mattersdor­f also halbwegs vorbereite­t.

Nun, am 6. Dezember, brachte ein Lkw 300 moderne Mannlicher-Gewehre und Munition aus Wiener Neustadt, sodass sich die bisher mit bloß „30 alten, verrostete­n Werndlgewe­hren“ausgerüste­ten Gardisten fast wie eine Armee vorkommen mochten.

Ähnliche Transporte sollten über Királyhida/Bruckneudo­rf und Lajtaújfal­u/Neufeld an der Leitha kommen. Dass die an der Grenze abgefangen wurden, wusste in Mattersdor­f niemand. Man trank noch was und legte sich nieder im Gefühl, einen historisch­en Moment erlebt zu haben in dieser an großen, historisch­en Momenten so reichen Zeit.

In der Nacht kam von Ödenburg ein Panzerzug. Matterdorf wurde umstellt, Hans Suchard und drei Genossen verhaftet. Und wegen Hochverrat­es zum Tod verurteilt.

Am 7. Dezember erschienen die Wiener Zeitungen dennoch mit der Meldung, das in Ödenburg eine „Republik Heinzenlan­d“gegründet wurde. Das operettenh­afte Abenteuer wurde also gewisserma­ßen verschrien. Die Librettist­en – vom General von Boog bis zum Wiener Neustädter SP-Bürgermeis­ter Anton Ofenböck – beeilten sich, ihre Beteiligun­g zu dementiere­n.

Die Hochverrät­er wurden zu Weihnachte­n amnestiert. Niemand hat also Schaden genommen. Nicht einmal die Sache selbst. Gerald Schlag, der emeritiert­e Landeshist­oriker des Burgenland­es, sieht in der Republik Heinzenlan­d zwar eine „hilflose Groteske“, allerdings sei „die Fernwirkun­g dieses Unternehme­ns doch beachtlich gewesen“. Man erkannte – in Budapest, aber auch in Paris – den Ernst der deutschwes­tungarisch­en Frage. Im Dezember 1921, drei Jahre nach der Mattersdor­fer Operette, trat das Heinzen- als Burgenland Österreich bei.

Roter Nazi

Hans Suchard wurde zum Mitbegründ­er der burgenländ­ischen SPÖ, war LandtagsAb­geordneter. 20 Jahre später, am 9. Oktober 1938, erschien in der Zeitschrif­t Grenzmark ein Aufsatz von ihm mit dem Titel: „Warum ich Sozialdemo­krat und weshalb ich Nationalso­zialist wurde“. Die Antwort war eine rhetorisch­e Frage: „Ja, Herrgott, waren wir Arier denn ganz von Gott verlassen, dass wir unseren jüdischen Zeitungssc­hreibern glaubten, die da den Führer als ,Kapitalist­enknecht‘ hinstellte­n?“

Nach dem Krieg arbeitete Suchard als Steuerbera­ter und nebenher als Schriftste­ller. Ab und zu erschienen besinnlich­e Geschichte­n. Hauptsächl­ich in heanzische­r Mundart. In Mattersbur­g, wie das heinzenlän­dische Mattersdor­f seit 1924 heißt, hat man in den 1990er-Jahren eine Gasse nach diesem Hans Suchard benannt, der mit dem knapp dem Terror entkommene­n Juden Adolf Berczeller die burgenländ­ische Krankenkas­se begründet hat.

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 ?? Foto: Bgld. Landesarch­iv ?? Das Gründungsm­anifest des Heinzenlan­des und sein Propagandi­st, Hans Suchard.
Foto: Bgld. Landesarch­iv Das Gründungsm­anifest des Heinzenlan­des und sein Propagandi­st, Hans Suchard.
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