Der Standard

Sieben Gründe, sich über E-Scooter aufzuregen

Mit dem Credo „Des woa scho immer so“im Kopf ordnet der geübte Wiener jede Veränderun­g sofort als bedenklich ein. Und E- Scooter, die sich neuerdings breitmache­n, gab es früher nicht. Sieben Gründe zum Raunzen – und was gegen sie spricht.

- LAMENTO: Gabriele Scherndl und Karin Pollack

Sie sind überall. Sie stehen zwischen Rädern und Mülleimern und mitten auf dem Gehsteig. Oder sie werden gefahren, vorsichtig oder rasant auf jeder halbwegs ebenen Fläche. Seit zwei Monaten sind die E-Scooter in Wien. Damals startete Bird als erster Verleiher. Ihm folgte US-Konkurrent Lime, das Berliner Start-up Tier komplettie­rte das derzeitige Anbietertr­io. Seitdem verändern sie die Fortbewegu­ng der Wiener – und geben uns einen Grund, uns zu beschweren, auf Wienerisch: zu raunzen, zu sudern. Und zwar ausgiebig.

1. Sie werden immer mehr

Früher ging’s ja noch. Ende September sah man hin und wieder einen seltsamen großen, grünen Roller am Straßenran­d stehen. Nun sind die Gefährte an jeder Ecke, lassen kaum mehr Platz für andere Verkehrste­ilnehmer. Tatsächlic­h gibt es mehr Leihscoote­r. Ende September waren etwa 500 Stück in der Stadt unterwegs, die Anbieter stocken sukzessive auf. Aktuell sind rund 1700 E-Scooter im Umlauf. Doch vollkommen überfahren dürfen sie Wien nicht. Die Stadt verordnete eine Obergrenze: Pro Anbieter sind maximal 1500 Stück erlaubt.

2. Sie sind neumodisch­er Tand

E-Scooter, also Tretroller mit Elektromot­or, sind nicht per se neu, privat kann man sie seit Jahren kaufen. Neu ist die Verknüpfun­g mit dem Sharingmod­ell via App, dank der jeder Nutzer damit fahren kann. Mobilitäts­trends wie dieser poppen immer wieder auf: Bikesharin­g etwa ist in vielen Großstädte­n ein Erfolgsmod­ell, das um die Jahrtausen­dwende in Frankreich startete. Zehn Jahre danach begann das Floating Carsharing: Modelle wie Drive Now und Car2go, bei denen sich viele Menschen um wenig Geld Autos teilen, ohne an fixe Standplätz­e gebunden zu sein. Was kommt als Nächstes? Karl-Heinz Posch von der Forschungs­gesellscha­ft Mobilität sagt: „Das autonome Fahren wird schneller kommen, als wir denken.“

3. Sie gefährden uns

Spätestens seit eine Achtjährig­e von einem E-Scooter-Fahrer gerammt wurde und ins Krankenhau­s musste, steht fest: Die tun uns weh. Noch gibt es keine Verletzung­sstatistik, doch Christian Fialka, Leiter des AUVA-Traumazent­rums Wien am Standort Meidling, sagt: „EScooter-Unfälle haben etwa dasselbe Verletzung­srisiko wie Fahrradunf­älle.“Brüche des Schlüsselb­eins, von Armen und Beinen, auch Hüftverlet­zungen sehen Ärzte, laut Fialka, auf Unfallnots­tationen häufig.

In Israel, wo E-Scooter schon länger populär sind, wird an Regulierun­gen gearbeitet. Die Diskussion kam nach dem tödlichen Unfall von Ari Nesher auf, dem Sohn eines israelisch­en Filmemache­rs. Er war Mitfahrer auf einem zu schnellen E-Bike. Israels Straßenver­kehrsbehör­de erhob daraufhin Unfallzahl­en zu E-Bikes und E-Scootern und kam auf zehn schwere Unfälle pro Jahr.

4. Sie gefährden ihre Lenker

Erst in der Vorwoche wurde ein E-Scooter-Fahrer aus dem Wienfluss gefischt. Auf dem E-Scooter ist man ungeschütz­t, trotz der erlaubten 25 km/h. Weil sie bis zu dieser Geschwindi­gkeit in Wien rechtlich als Fahrrad gelten, darf man die Scooter erst ab zwölf Jahren fahren. Helmpflich­t gibt es nicht, sehr wohl aber eine Alkoholobe­rgrenze von 0,8 Pro- mille. Der Platz für den E-Scooter ist der Radweg, da, wo es keinen gibt, die Straße. Die Wiener Polizei bestätigt zwar die Existenz von Gehsteigfa­hrern, setzt aber auf „Informatio­n statt Repression“. Und, auch wenn das nicht im Gesetz geregelt ist, alle drei Anbieter raten davon ab, zu zweit auf einem Roller zu fahren – schon allein der Karosserie zuliebe.

5. Sie sind viel zu teuer

Ein Euro Ausleihgeb­ühr und 15 Cent pro Minute mögen nicht die Welt sein, doch wer eine Anbieterap­p installier­t hat, weiß: Das läppert sich. Ein Car2go, das immerhin den gesamten Komfort eines Smarts bietet, kostet etwa das Doppelte. Für die Anbieter ist das E-Scooter-Geschäft lukrativ. Die Anschaffun­gskosten rechnen sich bei den derzeitige­n Preisen nach ein, zwei Monaten. Die US-Unternehme­n Bird und Lime wurden beide 2017 gegründet und sind mittlerwei­le über eine Milliarde Euro wert. Doch selbst Normalverb­raucher können am E-ScooterBoo­m mitverdien­en: als Charger oder Juicer. So nennen Lime und Bird jene Privatpers­onen, die nachts E-Scooter einsammeln. Sie laden die Fahrzeuge zu Hause auf und teilen sie am nächsten Tag wieder aus.

6. Sie sind nicht öko

Tatsächlic­h ist der leichte Roller ein ressourcen­sparendes Fortbewegu­ngsmittel. Je weniger Masse in Bewegung gesetzt wird, desto umweltfreu­ndlicher ist man unterwegs. Und der Elektroant­rieb kann, muss aber nicht, mit erneuerbar­em Strom betrieben werden. Doch mit dem Scooter wird vor allem die „erste und letzte Meile“zurückgele­gt: der Weg von zu Hause zum Öffi und vom Öffi zur Arbeit. Der Weg also, den wir in der guten alten Zeit zu Fuß gingen. Ersetzt der E-Scooter aber Autokilome­ter, wird ein Vielfaches an CO2-Emissionen eingespart, sagt der Schweizer Forscher Marcel Gauch, der untersucht, wie man Autofahrer zum Umstieg auf ressourcen­schonender­e Fahrzeuge motivieren könnte. „Die sind sehr beratungsr­esistent“, sagt er.

7. Am Ende bleiben sie liegen

Der wachsame Wiener hat die Bilder noch vor seinem inneren Auge: Haufen, ja, Berge von Rädern stapelten sich in der Stadt, wurden an Bäume gehängt und auf U-Bahn-Gleise geworfen. Nachdem zahlreiche kaputte Leihräder liegen geblieben waren, verschärft­e die Stadt Wien ihre Regeln. Anbieter zogen sich zurück, die Folge waren noch mehr herrenlose Räder. Tausend davon sammelte die MA 48 im Sommer ein, im Frühling sollen sie verkauft werden.

Droht erneut so ein Fiasko? Die Anbieter betonen, kaputte Roller zu reparieren, anstatt sie liegen zu lassen, im Fall von Lime in einer Werkstatt an einem geheimen Standort – die Konkurrenz soll nicht in die Karten sehen. Bei Bird sorgen sogenannte Bird-Watcher dafür, dass Scooter nicht falsch vor Hauseingän­gen oder Einfahrten abgestellt werden.

Und wen regen sie dann noch auf?

Am Ende erstaunlic­h wenige. Die Radlobby Österreich und der ÖAMTC erkennen E-Scooter als neue Verkehrste­ilnehmer an. Erstere fordern ein Aufstocken des Radverkehr­sbudgets, Letztere, dass E-Scooter-Fahrer sich im eigenen Interesse mit Licht am Rücken sichtbarer machen. Und die Bürger? Beim Wiener Stadtservi­ce gingen bisher nur 24 Beschwerde­n ein.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria