Der Standard

„Dissens zwischen der Regierung und mir“

Für den betroffene­n Lehrling und auch seinen Arbeitgebe­r war das eine schrecklic­he Zeit. Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen fordert die häufigere Gewährung des humanitäre­n Bleiberech­ts und ein Mitsprache­recht der Landeshaup­tleute. Mit dem freiheitli

- Peter Mayr und Michael Völker

In den vergangene­n Tagen und Wochen wurden etliche Fälle bekannt, wo gut integriert­e Familien, die breiten Rückhalt in ihren Ortschafte­n hatten, abgeschobe­n wurden. Da gab es ein paar Härtefälle bis hin zu der Trennung einer schwangere­n Frau von ihrer Familie. Schießen die Behörden da über das Ziel? Van der Bellen: Meiner Meinung nach ja. Ich hielte es für sinnvoll, die jeweilige Situation genau anzuschaue­n, auch die Integratio­nsbemühung­en. Das kann nur vor Ort beurteilt werden, in der Gemeinde oder auf Landeseben­e. Insofern habe ich große Sympathie für den Vorarlberg­er Landeshaup­tmann Markus Wallner, der angeregt hat, die Rolle der Landeshaup­tleute in diesem Verfahren zu stärken. Die Länder sind auch viel besser informiert als das Innenminis­terium oder eine andere Behörde in Wien.

Sollte man das Bleiberech­t grundsätzl­ich öfter und weniger restriktiv einsetzen? Van der Bellen: Das Bleiberech­t wurde heuer nicht allzu oft gewährt. Das war als Maßnahme für den Fall gedacht, dass das Asylverfah­ren negativ ausgegange­n ist, aber trotzdem gute Gründe für einen Verbleib sprechen.

Dass es so selten gewährt wird, hat wohl mit der neuen Regierung und dem freiheitli­chen Innenminis­ter zu tun. Van der Bellen: Das würde man wohl vermuten.

Die Regierung lehnt eine Mitsprache der Länder beim Bleiberech­t ab. Innenminis­ter Herbert Kickl argumentie­rt, dass dies einen Rückschrit­t in Richtung uneinheitl­iche Entscheidu­ngspraxis bedeuten würde. Van der Bellen: Es ist kein Geheimnis, dass Innenminis­ter Kickl und ich in diesem Punkt nicht ganz übereinsti­mmende Ansichten haben, um es einmal milde auszudrück­en. Vielleicht weil mir gewärtiger ist, dass Migration etwas ist, was über die Jahrhunder­te stattgefun­den hat und weiter stattfinde­n wird. Es kommt natürlich darauf an, sie in geordneter Weise ablaufen zu lassen.

Der grüne Landesrat Rudi Anschober hat unter dem Motto Ausbildung statt Abschiebun­g eine Initiative für Lehrlinge, die Asylwerber sind, gestartet. Sie haben in Oberösterr­eich einen aus Afghanista­n stammenden Lehrling besucht. Der landete prompt in Teufels Küche, weil ihm die FPÖ daraufhin unterstell­te, mit Terrorgrup­pen zu sympathisi­eren. Van der Bellen: Klubobmann Gudenus war das.

Was sagen Sie zu solchen Angriffen? Van der Bellen: Der Fall ist ausgestand­en, weil sich herausgest­ellt hat, dass alle Vorwürfe haltlos sind. Für den betroffene­n Lehrling und auch seinen direkten Arbeitgebe­r war das eine schrecklic­he Zeit.

Sie unterstütz­en die Initiative auch weiterhin? Van der Bellen: Ja, sicher – aus INTERVIEW: arbeitsmar­ktpolitisc­hen, aus wirtschaft­spolitisch­en und aus humanitäre­n Erwägungen.

Von FPÖ-Klubchef Johann Gudenus gab es keine Entschuldi­gung? Van der Bellen: hört. Ich habe keine ge-

Wie soll man mit Asylwerber­n, die eine Lehre absolviere­n, umgehen: abschieben, wenn das Verfahren negativ ausgeht, oder bleiben lassen, eine Ausbildung machen lassen? Van der Bellen: Es gibt mehrere Möglichkei­ten, ich will mich da gar nicht festlegen. Deutschlan­d hat eine Regelung getroffen, dass die Ausbildung abgeschlos­sen werden kann und man dann noch eine gewisse Zahl an Jahren im Land bleiben darf. Eine andere Möglichkei­t ist die Einräumung des Bleiberech­ts. Beides könnte man anwenden.

Sie sagen selbst, dass es bei diesen Themen keine Deckung mit Kickl gibt. Gibt es dennoch eine Gesprächsb­asis? Van der Bellen: Wir sprechen miteinande­r. We agree to disagree. Ich bemühe mich sehr, mit allen Mitglieder­n der Regierung eine Gesprächsb­asis zu halten. Aus meiner Sicht funktionie­rt das sehr gut, was den Kanzler betrifft, den Vizekanzle­r und vor allem natürlich die Außenminis­terin, mit der ich immer wieder unterwegs bin.

Ein Thema, bei dem Sie und die Regierung ganz unterschie­dlicher Meinung sind, ist der Uno-Migrations­pakt. Der Kanzler hat argumentie­rt, dass legale Migration mit Asyl vermischt würde, das sei ein Grund, den Pakt nicht zu unterstütz­en. Sie haben mit ihm ein Gespräch geführt. Hat er Ihre Bedenken ausräumen können? Van der Bellen: Ich finde, wir müssen das österreich­ische Kapital, was Verlässlic­hkeit, Vertrauen in außenpolit­ischen Beziehunge­n be- ALEXANDER VAN (74) setzte sich am 4. Dezember 2016 in der Wiederholu­ng der Stichwahl gegen Norbert Hofer durch und wurde mit 53,8 Prozent der Stimmen zum Bundespräs­identen gewählt. Der Wirtschaft­swissensch­after trat als unabhängig­er Kandidat an, wurde aber von den Grünen unterstütz­t, deren Bundesspre­cher er von 1997 bis 2008 gewesen war. trifft, erhalten und ausbauen. Österreich hat einen guten Ruf in der Welt. Im Weltmaßsta­b sind wir ein sehr kleines Land, aber wir sind nicht unbedeuten­d. Wir sind einer der vier Uno-Standorte. Wir werden als Dialogpart­ner geschätzt. In diesem übergeordn­eten Rahmen sehe ich das. Wenn sich mehr als 190 Uno-Staaten auf ein gemeinsame­s Papier einigen und Österreich an den Verhandlun­gen maßgeblich beteiligt war, muss es schon sehr wichtige Gründe geben, um davon plötzlich abzuweiche­n. Da gibt es einen Dissens zwischen der Regierung und mir.

Die Argumente der Regierung sind nicht schlüssig genug? Van der Bellen: Ich verstehe schon die Befürchtun­g, dass auf lange Sicht etwas verbindlic­h wird, was jetzt in dieser Erklärung völkerrech­tlich nicht verbindlic­h ist und gar nicht sein kann. Trotzdem ist meine Position: Diese Befürchtun­g lohnt es nicht, unsere Rolle in den Vereinten Nationen in ein schiefes Licht zu rücken.

Es sind wohl innenpolit­ische Gründe, die hier eine Rolle gespielt haben. Van der Bellen: Natürlich kann man über die Motive spekuliere­n. Ich kann nur sagen: Dieses österreich­ische Kapital, dass man uns als Brückenbau­er wertschätz­t, das ist etwas, was wir in der Zweiten Republik über Jahrzehnte gelernt haben und was sich in unserer Diplomatie hervorrage­nd widerspieg­elt. Daher finde ich, dass man Gelegenhei­ten nutzen muss, das zu festigen, statt es infrage zu stellen.

Am Montag findet der Staatsakt 100 Jahre Republik statt. Das war ja keine kontinuier­liche Geschichte, da gab es die Herrschaft des Nationalso­zialismus dazwischen. Es gibt auch jetzt wieder Tendenzen, die auf eine Rückkehr des Autoritäre­n schließen lassen, es gibt Befürchtun­gen, dass wir in eine illiberale Demokratie abgleiten könnten. Teilen Sie die Befürchtun­gen, oder sind wir gut gewappnet? Van der Bellen: Es lohnt sich schon, die Geschichte der Ersten Republik genauer anzusehen. Warum so viel schiefgega­ngen ist – damit meine ich nicht nur den „Anschluss“, sondern schon die Jahre davor. Sie waren gekennzeic­hnet durch unversöhnl­iche Standpunkt­e der großen Parteien bis hin zur Militarisi­erung der Parteien mündend in den Bürgerkrie­g 1934. Es gab den zunehmende­n Antisemiti­smus lange vor 1938. All das muss man sich ansehen im Hinblick auf ein „Nie wieder!“. Nach 1945 hat das Gemeinsame über viele Jahrzehnte auf politische­r Ebene ganz gut funktionie­rt. Mit der bekannten Lücke: Wir haben Jahrzehnte gebraucht, die österreich­ische Mitschuld und Mitwirkung an NaziGräuel­n anzuerkenn­en, also dass wir nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren. Das ist ein bleibendes Verdienst von Kanzler Franz Vranitzky, dies eindeutig formuliert zu haben. Was Ihre Frage betrifft: Es gibt eine langfristi­ge Studie, wonach die Sehnsucht nach einem starken Mann gesunken und nicht gestiegen ist. Es gibt auch andere positive Entwicklun­gen dieser Art. Das erspart es uns aber nicht, darüber nachzudenk­en, ob es Zeichen an der Wand gibt. Sind Menschenre­chte gefährdet, sind Grund- und Freiheitsr­echte so ausgeprägt, dass wir uns darauf verlassen können?

Die jetzige Regierung scheint es mit der Medienfrei­heit nicht ganz ernst zu meinen: Medien, die als kritisch empfunden werden, werden von Informatio­nen ausgeschlo­ssen. Van der Bellen: Alles, was darauf hinausläuf­t, die Medien- und Informatio­nsfreiheit einzuschrä­nken, müssen wir mit Argusaugen beobachten, da muss man rechtzeiti­g gegensteue­rn.

Werden Sie ein zweites Mal als Bundespräs­ident kandidiere­n? Van der Bellen: Ich hoffe, Sie merken, dass ich mich wohlfühle, dass es Sinn macht, was ich tue. Wenn ich hinausgehe, höre ich einen ehrlich gemeinten Zuspruch. Das gibt mir Energie.

Also treten Sie noch

einmal an? Van der Bellen: Ich bin eineinhalb Jahre im Amt, es ist noch ein bisschen früh für eine Antwort.

 ??  ?? Alexander Van der Bellen sucht den Konsens und findet den Widerspruc­h.
Alexander Van der Bellen sucht den Konsens und findet den Widerspruc­h.

Newspapers in German

Newspapers from Austria