Der Standard

Die Rückkehr der Kinder der Verjagten

Nachkommen jüdischer Überlebend­er sprechen oft davon, dass Traumata generation­enübergrei­fend weitergetr­agen werden. Eine Gruppe kam auf Einladung des Jewish Welcome Service nach Österreich und suchte familiäre Spuren.

- Vanessa Gaigg

Ich dachte nicht, dass es hier aussieht wie an einem Ort, wo ich Urlaub machen würde.“Deborah Kurtz steht mit dem Rücken zum ehemaligen Konzentrat­ionslager Mauthausen. Ihr Blick schweift über grüne Hügel, die typisch für das Mühlvierte­l sind. „Und dann drehe ich mich um und sehe Leiden und Tod.“

Neben Kurtz steht rund ein Dutzend weitere Besucher der Gedenkstät­te. Viele nicken. Die meisten von ihnen sind Kinder von Überlebend­en der Shoah, so wie Kurtz. Ihre Mutter wurde, weil sie Jüdin war, aus ihrer Heimatstad­t Wien vertrieben. Als Zehnjährig­e konnte sie sich 1939 noch aus Österreich retten. Auch ihr Vater überlebte ein Lager. Es ist das erste Mal, dass Kurtz, die in Chile geboren wurde und schon lange in Kanada lebt, eine KZ-Gedenkstät­te besucht. „Ich konnte mich nicht früher dazu überwinden“, sagt sie.

Eine Woche wird Kurtz in Österreich verbringen. Sie ist auf Einladung des Jewish Welcome Service (JWS) nach Wien gekommen. Das von Leon Zelman unter der Ägide des früheren Wiener Bürgermeis­ters Leopold Gratz (SPÖ) gegründete JWS bemüht sich seit 1980, Überlebend­en einen Wien-Besuch zu ermögliche­n. Zwei bis drei Gruppen mit jeweils etwa 50 Personen kommen jährlich. Zunehmend lädt man auch jüngere Generation­en ein.

„Die Idee ist, zu zeigen, dass es eine Veränderun­g in diesem Land gegeben hat“, sagt Milli Segal, die die Gruppe für das JWS betreut. Alle Besucher dieser Gruppe sind Nachkommen jüdischer Überlebend­er. Den Gästen wird ein Programm geboten, darunter ein Besuch des jüdischen Friedhofs, ein Essen beim Heurigen und eben die Fahrt zur Gedenkstät­te Mauthausen. Viele, die gekommen sind, haben den letzten Programmpu­nkt ausgelasse­n.

Zwei Geschichts­bücher

David, der Tourguide, der sie durch die Gedenkstät­te führen wird, ist jung, er könnte der Sohn vieler sein, die jetzt um ihn herumstehe­n. Er wird der Gruppe zum Beispiel erzählen, dass in Mauthausen und seinen Außenlager­n von den insgesamt etwa 190.000 Gefangenen in sieben Jahren mindestens 90.000 zu Tode gekommen sind. Und wie es durch Normalisie­rungsproze­sse geschehen konnte, dass das KZ in den Alltag des Ortes integriert REPORTAGE: wurde. Was die Gruppe aber besonders interessie­rt, ist, wie in Davids eigener Familie über die Geschichte gesprochen wurde. „Jeder Österreich­er hat zwei Geschichts­bücher“, sagt dieser darauf in Anlehnung an den Soziologen Harald Welzer: „die Enzyklopäd­ie und das Familienal­bum“. In seiner Familie habe niemand über Taten des Großvaters gesprochen, bis alle aus dieser Generation tot waren.

Die Vergangenh­eit sei in ihrer Familie ein „riesiger Elefant im Raum“gewesen, den nie jemand angesproch­en habe – schon gar nicht die Eltern, sagt Kurtz. Trotzdem war sie allgegenwä­rtig: Ihre Eltern waren geprägt durch die Erfahrunge­n, die sie machen mussten. „Sie hatten keine Kindheit.“Die Eltern hätten diese Prägung bis zu einem gewissen Grad weitergege­ben. Es ist eine Erfahrung, die Kurtz mit den anderen teilt.

„Als ich aufgewachs­en bin, war es in meiner Familie verboten, deutsche Produkte zu kaufen“, erzählt Miriam Grotsky. Es ist, abgesehen von einem reisebedin­gten Zwischenst­opp, das erste Mal, dass die 51-Jährige in Wien ist. Durch einen Kindertran­sport entkam ihr Vater dem Tod. Heute lebt er, wie seine Tochter, in Israel. Der Vater selbst ist nie zurückgeke­hrt.

Bilder aus der Vergangenh­eit

Grotsky wollte sehen, wie es dort aussieht, wo ihr Vater aufgewachs­en ist. Sie spazierte durch den 20. Bezirk bis zum früheren Haus des Vaters. Angeläutet hat sie nicht. „Als ich durch die Straßen ging, hatte ich Bilder in meinen Kopf. Von Schildern in Parks, auf denen stand: ,Keine Hunde, keine Juden erlaubt.‘“

Etwa zehn Prozent der Wiener Bevölkerun­g waren in den frühen 1930ern Juden. „Das prägt eine Stadt. Viele wollen das bis heute nicht hören“, so Milli Segal. Einen „neuen Antisemiti­smus“gebe es nicht. „Es gibt den Antisemiti­smus, den wir bereits kennen.“Und der hat wieder Konjunktur: „Man traut sich wieder, mehr zu sagen als früher.“Das dürfe man nicht heruntersp­ielen. Aber es habe sich auch viel verändert: „Wenn die Leute bei Wohnungen klingeln, werden sie in neun von zehn Fällen auf einen Kaffee eingeladen.“

Knapp vor ihrem Tod habe die Mutter zum ersten Mal mit ihr Familienfo­tos angesehen, sagt Kurtz. Jetzt, mit 56, hat sie erstmals in Wien lebende Cousins getroffen. Und wissen wollen, wie die Stadt aussieht, in der ihre Mutter aufgewachs­en ist, und woher das Verstockte kam, das ihre Mutter mitunter an den Tag legte. „Sie haben meine Mutter aus Wien gejagt“, sagt sie. Aber das Wienerisch­e sei ihr bis zum Tod geblieben.

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