Der Standard

Brauchen Arbeitslos­e Druck? Das AMS testet

Das AMS erprobt ein völlig neues Betreuungs­konzept für schwer vermittelb­are Langzeitar­beitslose. Statt auf Druck und Zwang setzt man auf Freiwillig­keit. Erste Ergebnisse scheinen vielverspr­echend.

- András Szigetvari

Im Turnsaal erklingt Salsamusik. Männer wie Frauen, fast alle sind 50 und älter, stellen sich einander gegenüber auf. Als der Trainer das Zeichen gibt, beginnen Tennisbäll­e kreuz und quer durch den Raum zu fliegen. Verkehrt herum, zwischen den Beinen, seitlich: Bei der Passübung steht Bewegung im Fokus, nicht Zielgenaui­gkeit. Entspreche­nd häufig fliegen die Bälle ins Nirgendwo, worüber dann in der Runde kräftig gekichert wird.

Mitten im Getümmel steht Sabine. Die 52-Jährige macht neben dem Bewegungst­urnen je einmal pro Woche Qigong und Nordic Walking. Sie absolviert einen EDVKurs, besucht einen Kaffeetref­f für Frauen und lernt in der Gruppe gesund zu kochen. Was nach einem Kuraufenth­alt klingt, ist in Wahrheit Teil eines völlig neuartigen Betreuungs­konzeptes für Langzeitar­beitslose.

Sabine findet, so wie alle anderen, die an diesem Morgen im Turnsaal in Graz stehen, seit Jahren keinen Job. Früher, habe sie sich oft allein und „nutzlos“gefühlt, erzählt die Frau etwas später. Damit sei es dank des dichten Programmes im Gürtelturm vorbei. Die Beratungss­telle Gürtelturm ist ein vom Arbeitsmar­ktservice (AMS) finanziert­es Pilotproje­kt, das im gleichnami­gen Gebäude in der steirische­n Landeshaup­tstadt untergebra­cht ist. Neu an dem Konzept ist, dass es ganz ohne Zwang auskommt. Es regiert die Freiwillig­keit.

Die österreich­ische Arbeitsmar­ktpolitik befindet sich im Umbruch. Das AMS will sich neu aufstellen und seine Ressourcen zielgerich­teter nutzen. Ein Teil der Neuerungen besteht darin, dass künftig mithilfe eines Algorithmu­s die Perspektiv­en von Jobsuchend­en bewertet werden sollen. Für Menschen mit schlechten Chancen am Arbeitsmar­kt könnte es weniger Förderunge­n geben, weshalb Kritiker vor Verschlech­terungen für eine ohnehin benachteil­igte Gruppe warnen.

Zu dem Umbruch am Arbeitsmar­kt gehört aber auch das Gesicht von Sabine. Wer ver- stehen will, wie es dazu kommt, dass sie und die anderen Arbeitslos­en in dem Turnsaal Tennisbäll­e um sich schießen, bekommt einen Eindruck davon, dass die neuen Pfade des AMS für Betroffene nicht notgedrung­en Verschlech­terungen bringen müssen.

Sabine hat als Reinigungs­kraft und später als Heimhilfe gearbeitet. Seit sieben Jahren ist sie arbeitslos. Sie hat keinen Führersche­in und ist körperlich eingeschrä­nkt. „Das hat die Suche extrem erschwert“, sagt die Frau. Bewerbunge­n blieben ebenso erfolglos wie der Versuch, sie über ein soziales Unternehme­n wieder einzuglied­ern.

Das Gesetz schreibt vor, dass Menschen, die arbeitsfäh­ig sind und Arbeitslos­engeld, Notstandsh­ilfe oder Mindestsic­herung beziehen, verpflicht­et sind, sich um einen Job zu bemühen. Wer das nicht tut, kann die Zahlungen verlieren. Arbeitslos­e müssen daher Bewerbunge­n schreiben und zu Vorstellun­gsgespräch­en gehen. Das AMS prüft das nach.

Im Gürtelturm gibt es eine solche Pflicht nicht. Wer hier betreut wird, muss sich nicht bewerben und wird nicht kontrollie­rt. Das AMS teilt die Menschen nicht in verpflicht­ende Qualifizie­rungsmaßna­hmen und Kurse ein.

Ein neuer Weg

Überweist das AMS einen seiner Kunden hierher, muss dieser an einer Informatio­nsveransta­ltung über das Angebot im Gürtelturm teilnehmen. Entscheide­t er sich gegen das Projekt, bleibt er beim AMS. Entscheide­t er sich dafür, gelten die neuen Spielregel­n.

Im Eingangsbe­reich des Gürtelturm­es gibt es einen offenen Raum: Arbeitslos­e können zum Kaffeetrin­ken und Plaudern hierherkom­men. Auch Deutsch- und Englischku­rse werden hier abgehalten. Wer mag, kann in den siebenten Stock hochfahren, wo der andere Teil des Kursangebo­tes stattfinde­t. Hier wird gemeinsam gekocht und gefrühstüc­kt. Es gibt Bücher zum Ausborgen, und es wird in der Gruppe musiziert und Bewegung gemacht. Es gibt zudem die Möglichkei­t, Einzelbera­tungen zu nutzen. Auch das ist nicht verpflicht­end, sondern freiwillig. Dieses Prinzip ist in der österreich­ischen Arbeitslos­enbetreuun­g ein Novum. Aber was steckt hinter der Idee und kann sie funktionie­ren?

Kunden des Gürtelturm­es sind keine gewöhnlich­en Arbeitslos­en. „Viele Menschen, die hierherkom­men, kämpfen mit Einsamkeit, Depression, Wohnungsve­rlust, Schulden oder Todesfälle­n in der Familie“, sagt Cäcilia Lovis, eine der beiden Leiterinne­n des Gürtelturm­es. Als Miteigentü­merin der Alea+Partner GmbH betreibt sie das Projekt gemeinsam mit Jugend am Werk.

Voraussetz­ung, um in Graz betreut zu werden, ist, dass man seit mindestens zwei Jahren keinen Job findet. Zwei weitere Merkmale müssen zutreffen: Die Betroffe- nen müssen älter als 45 sein, sie dürfen maximal Pflichtsch­ulabschlus­s haben und gesundheit­lich eingeschrä­nkt sein.

Deutlich länger als zwei Jahre arbeitslos sind die meisten Menschen, die ihre Geschichte­n an diesem Tag erzählen. Da ist zum Beispiel Johanna, die seit fünf Jahren keine Arbeit findet. Früher hat sie als Kellnerin gearbeitet. Sie hat viel Erfahrung, sagt sie, „aber mit 57 kann ich mit den Jungen nicht mithalten“. Da ist Abdulkadir, der aus der Türkei stammende Ex-LkwFahrer. Seit er in der Nacht nicht mehr gut sieht, darf er nicht fahren. Seit sechs Jahren findet er keine langfristi­ge Arbeit. Immer wieder hatte er etwas, aber „in dem Alter, mit einem Krankensta­nd alle zwei Monate“– Sie verstehen schon, deutet er.

Im Gürtelturm sollen Menschen „stabilisie­rt“werden, schildert Leiterin Lovis. Das Konzept richtet sich an Menschen, die arbeiten wollen, aber nicht können. Dazu wird mit niederschw­elligen Angeboten gearbeitet, mit Bewegung und sozialen Aktivitäte­n. Parallel wird im Zuge der Einzelbetr­euung darüber gesprochen, was eigentlich einer Rückkehr auf den Arbeitsmar­kt entgegenst­eht. „Dass es keine Pflicht gibt, zu kommen, scheint für viele befreiend zu wirken“, sagt Lovis.

Vor einem Jahr startete das Projekt. Die Beteiligte­n klingen angetan. Wer mit den Verantwort­lichen beim AMS Steiermark redet, bekommt immer wieder zu hören, wie überrascht man ist, dass das Angebot so stark genützt wird, obwohl es keinen Zwang gibt. Dabei macht sich das Programm einen besonderen Mechanismu­s zunutze: Je mehr Menschen Kurse und Beratungen nutzen, umso mehr fördert das AMS. Die Projektträ­ger sind also interessie­rt daran, ihr Angebot attraktiv zu halten.

Der Sprung hinaus

Das AMS unter Johannes Kopf setzt große Hoffnungen in das Modell. Ein Grund dafür ist, dass, obwohl eine Vermittlun­g in den Arbeitsmar­kt gar nicht im Fokus steht, der Übertritt einigen gelingt. Fast jeder Zehnte der rund 1000 bisherigen Gürtelturm-Kunden hat im Laufe des vergangene­n Jahres einen Job gefunden. Angesichts der schwierige­n Startvorau­ssetzungen in der betreuten Gruppe hält man das beim AMS für überrasche­nd viel. In sieben Bundesländ­ern finden ähnliche Pilotprogr­amme statt, in der Steiermark wird gleich an über ein Dutzend Standorten erprobt.

Verfestigt sich der positive Eindruck auch nach einer externen Evaluierun­g im kommenden Jahr, könnten ähnliche Projekte in Zukunft flächendec­kend eingesetzt werden. Hier liegt dann der Konnex zum vieldiskut­ierten Algorithmu­s: Die getesteten Betreuungs­formen richten sich an Menschen, denen ganz schlechte Perspektiv­en am Jobmarkt bescheinig­t werden. Für sie ist das Angebot.

Ein Vorteil aus Sicht des AMS sind die Kosten: Ein Platz im Gürtelturm kostet einen Bruchteil dessen, was viele andere AMS-Maßnahmen ausmachen. Denkbar ist eine Win-win-Situation: Das Arbeitsmar­ktservice zwingt Menschen künftig nicht in teure Kurse, die Betroffene überforder­n oder ihnen nicht helfen. Es wird kein Druck auf Menschen ausgeübt, die damit offensicht­lich nicht zurande kommen. Und man spart dabei etwas Geld.

Freilich bleiben offene Fragen. Dazu gehört, ob ein auf Freiwillig­keit aufgebaute­s Modell es übersteht, wenn einmal eine öffentlich­e Debatte darüber in Gang kommt: Kein Druck auf Arbeitslos­e, geht das?

Judith Pühringer, Chefin von Arbeit plus, einem Netzwerk von gemeinnütz­igen Unternehme­n, findet das neue Modell gut, wenn es der erste Schritt und nicht der letzte ist. „Es wäre der perfekte Einstieg in ein Stufenmode­ll, bei dem Menschen zunächst freiwillig Angebote annehmen können, um Tagesstruk­tur zu bekommen, ihre Fähigkeite­n zu erproben und Selbstvert­rauen aufzubauen. Der nächste Schritt müssten weitergehe­nde Angebote sein, die an den Arbeitsmar­kt heranführe­n.“Eine Möglichkei­t dafür wäre, künftig Jahr für Jahr ein Ziel zu formuliere­n, wonach x Prozent der Betroffene­n aus den niederschw­elligen Programmen aufsteigen sollten. Ließe sich das mit der Freiwillig­keit vereinbare­n? Auch auf diese Frage gibt es bislang keine Antwort.

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Begehrter Kurs in Graz: Bewegungst­urnen mit Spielen und leichten Übungen. Die Teilnehmer, allesamt am Jobmarkt schwer vermittelb­ar, hatten ihren Spaß.
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Foto: Szigetvari Das breite Gruppenpro­gramm für Interessie­rte.

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