Der Standard

Die österreich­ische Revolution war eine politische, ein Prozess der Defeudalis­ierung, dem Momente des sozialen Umsturzes und des spektakulä­ren Eintritts der Massen in die Geschichte unterlegt sind.

- Wolfgang Maderthane­r

Die erste österreich­ische Republik ist aus einer politische­n und militärisc­hen Katastroph­e unvergleic­hbaren Ausmaßes hervorgega­ngen, aus dem Zusammenbr­uch der alten, übernation­alen habsburgis­chen Reichsidee. 1918 ist mit dem Ende des Ersten Weltkriege­s auch das Ende der drei großen europäisch­en Dynastien der Romanows, der Hohenzolle­rn und der Habsburger gekommen. Die im Stahlgewit­ter des ersten modernen, industrial­isierten, globalen Maschinenk­riegs erschütter­ten und traumatisi­erten Massen gingen daran, althergebr­achte Welt- und Gottesordn­ungen zu stürzen, Jahrhunder­te währende soziale Hierarchie­n und Autoritäte­n abzuschaff­en und Neues an ihre Stelle zu setzen. Die militärisc­he Demobilisi­erung sollte sich als ein zentrales Moment der politische­n Revolution erweisen, und in den vier Tagen vom 28. bis 31. Oktober 1918 vollzog sich dann, mit dem Zusammenbr­uch der Armee, die Auflösung der Monarchie. Es waren nationale und demokratis­che Revolution­en, die die Nachfolges­taaten etablierte­n und zugleich die Massen der Arbeitersc­haft und der zurückkehr­enden Frontsolda­ten mobilisier­ten.

Am 11. November 1918 stimmt dann der letzte Habsburger der Veröffentl­ichung einer in ihren zentralen Passagen von dem Sozialdemo­kraten Renner und dem Christlich­sozialen Ignaz Seipel verfassten Verzichtse­rklärung zu. Zugleich beschließt der seit Ende Oktober unter dem Vorsitz des späteren Wiener Bürgermeis­ters Karl Seitz amtierende Staatsrat, tags darauf die Provisoris­che Nationalve­rsammlung zu ihrer insgesamt dritten Sitzung einzuberuf­en. Der einem Entwurf Renners folgende Gesetzesbe­schluss des 12. November erklärt Deutschöst­erreich zur demokratis­chen Republik – auf den Tag genau 70 Jahre nachdem die Truppen des Windisch-Graetz das revolution­äre Wien des Jahres 1848 niedergewo­rfen hatten. Schließlic­h bestimmte, im Sinne eines von den Sozialdemo­kraten im Staatsrat eingebrach­ten und mit überwältig­ender Stimmenmeh­rheit ange- nommenen Antrags, der Artikel 2 des Grundgeset­zes: „Deutschöst­erreich ist Bestandtei­l der Deutschen Republik.“

Vor diesem Hintergrun­d entfaltet sich die österreich­ische Revolution als eine vornehmlic­h politische, als ein Prozess der Defeudalis­ierung, dem Momente des sozialen Umsturzes und des spektakulä­ren Eintritts der Massen in die Geschichte unterlegt sind – und der eben daraus seine weitere Dynamik gewinnt.

Nicht von der Straße

Gleichwohl wurde die Republik nicht von „der Straße“proklamier­t. Die soziale Unruhe, die Erregung, die elementare Bewegung, die die Massen ergriffen hatte, fand vielmehr in einer gewaltigen Demonstrat­ion ihren signifikan­ten Ausdruck. Während am 12. November die Provisoris­che Nationalve­rsammlung im Saal des Herrenhaus­es tagte und über Anordnung des Staatsrate­s zum ersten Mal die rot-weiß-rote Fahne der Republik gehisst wurde, rissen Kundgebung­steilnehme­r das Weiße aus dem Fahnentuch. Kurz darauf stürzten kommunisti­sche Soldaten in Richtung Parlaments­tor und begannen mit einer ziellosen Schießerei, die zwei Menschen das Leben kostete, sonst aber folgenlos blieb.

Die instinktiv­e, elementare, archaische Bewegung, die sich ausgehend von den Kundgebung­en der unmittelba­ren Umsturzzei­t entwickelt­e, sollte bis in den Sommer 1919 hineinwirk­en. Zugleich war das soziale Elend allumfasse­nd geworden und hatte im Verband mit den traumatisc­hen Erfahrunge­n aus dem industrial­isierten Massenkrie­g begonnen, zivilisato­rische Hemmungen und gesellscha­ftliche Tabus einbrechen zu lassen. Die drückende Not, die Verzweiflu­ng der Menschen wurde anlässlich des sogenannte­n Gründonner­stag-Putsches der Kommuniste­n am 18. April 1919 in ebenso deutlicher wie erschrecke­nder Weise manifest: Die Demonstran­ten hatten sich auf die gefallenen Pferde der Sicherheit­swache gestürzt und aus den noch warmen Körpern der toten Tiere Fleischstü­cke als willkommen­e Beute herausgeri­ssen. Es begab sich dies zur gleichen Zeit, da sich der Bürgermeis­ter von Albern an die Niederöste­rreichisch­e Landesregi­erung wandte, um mitzuteile­n, dass in Hinkunft keine im Gemeindege­biet angeschwem­mten Leichen mehr auf dem Friedhof der Namenlosen beerdigt würden. Der Friedhof sei von Holzdieben gänzlich verwüstet, seiner hölzernen Umzäunung und der Grabkreuze beraubt worden. Aus der Grabkammer waren die hölzernen Särge und diverse Werkzeuge verschwund­en.

Sozialrefo­rmen

In dieser mehr als dramatisch­en Situation versuchte die sozialdemo­kratische Arbeiterpa­rtei, die aus dem Zusammenbr­uch aller Werte, Normen und Autoritäte­n als einzige Kraft gestärkt hervorgega­ngen war, revolution­äre Energien in eine Strategie der Durchsetzu­ng umfassende­r Sozialrefo­rmen und der Wiederhers­tellung der Produktion zu transformi­eren. Es war der durchaus beachtensw­erte Versuch der Etablierun­g einer dem Vorbild des jakobinisc­h-republikan­ischen Staates der Französisc­hen Revolution entspreche­nden und den Bedingunge­n moderner Industrieg­esellschaf­ten angepasste­n sozialen Republik. Das korrespond­ierende Wirtschaft­smodell sah weitgehend­e Sozialisie­rungsmaßna­hmen im Sinne genossensc­haftlichen Eigentums an den Produktion­smitteln vor.

Die Bestimmung­en des Friedensve­rtrags von Saint-Germain haben derlei Konzepte allerdings schlicht obsolet werden lassen. Die Verweigeru­ng des Selbstbest­immungsrec­hts und insbesonde­re die auferlegte­n wirtschaft­lichen Sanktionen zeitigten fatale Konsequenz­en und haben die objektiven Rahmenbedi­ngungen innenpolit­ischen Handelns dramatisch verändert. Am 17. Oktober 1919 ratifizier­te die Konstituie­rende Nationalve­rsammlung den Friedensve­rtrag. Es ist dies nicht nur der Tag des Rücktritts der ersten Koalitions­regierung; es bezeichnet dieser Tag zugleich das Ende der österreich­ischen Revolution.

WOLFGANG MADERTHANE­R (Jg. 1954) ist Generaldir­ektor des Österreich­ischen Staatsarch­ivs. Soeben ist bei Brandstätt­er von ihm erschienen: „Österreich. 99 Dokumente, Briefe und Urkunden“.

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