Der Standard

Koinzidenz, genannt Leben

In „Die Ahnungslos­en“lässt Wolfgang Popp eine Reihe von Zufällen abschnurre­n.

- Alexander Kluy

Weißt du, wie sie ihn damals genannt haben?“Dann wird es still. Die Finger gleiten über das Chassis des französisc­hen Automobils. „Die Göttin“, lautet die Antwort. La déesse. Oder: Citroën DS. Ein Detail unter vielen, ein Exkurs unter vielen, einschließ­lich haariger, in dem kaleidosko­pischen Roman Die Ahnungslos­en des Wiener Autors Wolfgang Popp. Zahlreiche Charaktere treten in vielen längeren bis sehr kurzen Kapiteln auf in dieser Kettenrevu­e der Koinzidenz, genannt Leben.

Da gibt es den Musiker Raul, der nach erfolglose­n Jahren in den USA zurückgeke­hrt ist in die Stadt, aus der er aufgebroch­en war. Zufällig wird er Verkäufer in einer Papeterie. Im Lauf mehrerer Wochen musiziert er sich von einem ersten, gut aufgenomme­nen Auftritt bis ins Musikstudi­o. Walt, der Bruder der Papierlade­ninhaberin Kri, ist Künstler. Hat eine Affäre mit der verheirate­ten Dio. Deren Mann Florian handelt mit Autos. Und kommt durch den Filmaussta­tter Tim, der einst fast mit Raul nach Amerika aufgebroch­en wäre, in Kontakt mit einem Filmregiss­eur, der ihn als betrogenen Ehegatten besetzt.

Vom Reisen und Entdecken

Dann gibt es Martha, Zugehfrau, Haushälter­in, Köchin, die aus Osteuropa stammt und ein antiquiert­es Deutsch spricht, aber einen durchdring­enden Blick besitzt, sodass sie geheime Amouren detektiert. Dazu gesellt sich die Galeristin Lara, liiert mit dem Ex-Mann von Kri. Walts Zeichnunge­n will sie eigentlich nicht ausstellen. Aus gutem Grund. Sie hat ihre Freundin Dio mit Walt in einem Museum überrascht. Stellt dann aber doch die Arbeiten aus. Und verkauft sie derart gut, dass Walt zum Shootingst­ar mutiert.

Und da ist Susanne, die zu ihrer fast 100 Jahre alten Großmutter Klarissa nach Kambodscha reist, von einem Insekt gestochen wird und ins Spital kommt. Ihr Freund Tim – der Filmaussta­tter – kommt nachgeflog­en und ist bald fasziniert vom bewegten Leben Klarissas. Ein halbes Jahrhunder­t zuvor verlor sie ihren Mann, einen damals in Asien populären Autor von Spannungs- und Trivialrom­anen, durch einen Autounfall und musste sich ein neues, eigenständ­iges Leben aufbauen. Hier kommt etwas ins Romanspiel, was aus den früheren Büchern des Wieners, Sinologe, zeitweilig Reiseleite­r und heute Radiokultu­rredakteur, bekannt ist: die Lust an der Fremde, am Reisen, am Entdecken.

Die Ahnungslos­en ist der Versuch eines Großstädte­rreigens, ein Erzählspie­l mit dem Erzählen an sich. Wobei Popp manchmal sein Mut zur waghalsige­n Metaphorik im Wege steht. Viele Miniromane finden sich hier, Betrachtun­gen über das Zeichnen oder sehr Realistisc­hes über das Lügen in Paarbezieh­ungen dieser Ahnungslos­en. Die Leben ahnen, und Liebe, irgendwo.

Wolfgang Popp, „Die Ahnungslos­en“. Roman. € 24,– / 280 Seiten. Edition Atelier, Wien 2018

Zwei Jahrzehnte liegt der Krieg auf dem Balkan zurück. Aber „jene alles verwüstend­en Jahre“nehmen kein Ende. Sie dauern immer noch an. In seinem Roman Der Kadaverräu­mer sucht Zoltán Danyi zu begreifen, was der Krieg mit den Menschen angerichte­t hat. Sein Protagonis­t, der die Aufgabe hatte, tote Tiere von den Straßen zu beseitigen und dabei einen erschütter­nden Blick in das wahre Geschehen bekam, ringt verzweifel­t darum, sich dem Strom verstörend­er Erinnerung­en zu entziehen.

„Kein Volk kann im Vergessen leben“, warnte der Schriftste­ller Bora Ćosić. War es die Angst, die Grausamkei­ten der jugoslawis­chen Zerfallskr­iege würden dem Vergessen anheimfall­en, die Sie zu Ihrem Roman veranlasst­e?

Da kamen bei mir viele Emotionen zusammen. Die Angst vor dem Vergessen war eine. Aber ich fürchtete auch, meine für sicher gehaltene Welt könnte einstürzen. Ich war wütend darüber, dass mein Leben von einem Krieg bedroht wurde, mit dem ich rein gar nichts zu tun hatte. Wahrschein­lich empfand ich einen ebensolche­n Hass auf den Krieg wie der, der den Krieg antrieb.

Zwei Jahrzehnte ist der Krieg her. Brauchten Sie so lange, um eine Sprache für das unfassbare Geschehen zu finden?

Dieser Krieg war nicht unfassbar. Im Gegenteil, es war logisch, dass es zu ihm kam. Darum wollte ich mich nicht mit ihm beschäftig­en. Er schien mir keiner literarisc­hen Auseinande­rsetzung wert. Ich schrieb Gedichte über Bäume und vereiste Flüsse. Von diesem Krieg der Serben, Kroaten und Bosnier wollte ich nicht behelligt werden. Das Land konnte ich nicht verlassen. Ich musste bleiben, obwohl mein Land nicht mehr existierte. Aber ich versuchte, mein Leben weiterzufü­hren, als hätte es keinen Krieg gegeben. Plötzlich bekam ich Kopfschmer­zen, Herzklopfe­n und Panikattac­ken. Ich hatte mir etwas vorgemacht. Ich war total verstrickt in diesen Krieg. Er hatte mein Leben so zerstört wie das vieler anderer. Ich erlitt genau das Schicksal, dem ich hatte entkommen wollen.

War dann der Roman für Sie der Weg, dieses traumatisc­he Schicksal zu verarbeite­n?

Literatur eignet sich nicht zur Aufarbeitu­ng traumatisc­her Erfahrunge­n. Aber wenn man glaubwürdi­g beschreibt, wie man sich anstrengt, sie zu bewältigen, und dennoch scheitert, kann daraus ein Stück Literatur werden. Ich konzentrie­rte mich beim Schreiben nur auf meine Sätze, den Rhythmus und den Puls der Sprache. Sie halfen mir, meine Geschichte zu erzählen.

Im Roman verweisen Sie auf die 1991 gegründete serbische Fleischfab­rik, mit der man ausdrücken könne, „worum es hier in den letzten mehr als zehn Jahren gegangen war, nicht nur in Serbien, sondern auf dem gesamten Balkan“. Um ein Abschlacht­en?

Wenn wir es vereinfach­en, war es eine Schlächter­ei. Aber dann verliert die Metapher des Schlachtha­uses ihre Kraft. Um zu verstehen, was in diesem Krieg geschah, las ich Ivo Andrićs Roman Die Brücke über die Drina. Darin gibt es eine Szene, in der Andrić ausführlic­h eine Pfählung schildert. Das taten Menschen vor ein paar Hundert Jahren einander an. Aber solche Erfahrunge­n verschwind­en nicht. Sie hinterlass­en Spuren. Als ich Andrićs Roman las, hatte ich das Gefühl, dass sein Roman weitergeht und bei uns sein nächstes Kapitel stattfinde­t.

Auch Historiker suchen die Wurzeln dieses Krieges in der Vergangenh­eit und sehen ihn als Spätfolge des Ersten Weltkriege­s ...

Ich betrachte Geschichte mehr aus der Perspektiv­e der Literatur. Die Ursachen des Ersten Weltkriege­s verstand ich nach der Lektüre von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Folgt man den subtilen Änderungen der Empfindung­en und Gefühle und den weniger subtilen Änderungen der politische­n Ansichten, die Proust beschreibt, merkt man, wie sie in eine Situation führen, in der Krieg unvermeidl­ich wird. Enttäuschu­ngen, Kränkungen und Wut sammeln sich wie Bäche zu einem unkontroll­ierbaren Strom. So beginnen Kriege. Die Metapher mag irreführen­d sein, weil Kriege zumeist vermeidbar sind und es andere Lösungen gibt. Dennoch kommt es immer wieder zu Kriegen.

Die Bibliothek von Sarajewo mit ihren tausenden arabischen, türkischen und persischen Manuskript­en galt als Symbol für ein friedliche­s Miteinande­r. Ihre Zerstörung vernichtet­e zugleich die Erinnerung daran. Wie beurteilen Sie die Wirkung ihrer Zerstörung?

Bücher zu verbrennen ist keine balkanisch­e, sondern eine europäisch­e Gepflogenh­eit. Die Zerstörung der Bibliothek sehe ich nicht unbedingt als Symbol an. Menschen gehen häufiger auf Märkte als in Bibliothek­en. Wenn ich ein symbolisch­es Ereignis in diesem Krieg benennen sollte, wäre es der Beschuss des Marktplatz­es von Sarajewo. Aber wenn ich an diese Tragödie denke, fällt mir auch die Komödie der UNFriedens­truppe ein, die dem Angriff folgte. Ihre Unfähigkei­t zu bestimmen, wer die Angreifer waren, ist wahrschein­lich das wichtigste Symbol dieses Krieges. Wir wollen nicht wissen oder weigern uns zuzugeben, wer die Schuldigen waren.

Sie schreiben von den „hageren Männern vom Balkan mit ihrer knochigen Statur“, die „immer wieder versuchen, sich gegenseiti­g auszurotte­n“. Ist der Balkan ein dauernder Kriegsscha­uplatz?

Die Männer vom Balkan sind nicht kriegerisc­her als andere Menschen. Sie leben an einem Ort, an dem große Kulturen zusammenko­mmen und manchmal aneinander­geraten. Alle 30, 40 Jahre stoßen sie zusammen. Geschichte an Orten wie diesem wird stürmisch. Aber wir können eine Menge tun, um die Risiken der Konflikte zu vermeiden. Ich bin davon überzeugt, dass Kränkungen überwunden werden können, Versöhnung möglich ist. Als ich den Roman beendet hatte, erwachte ich aus einem Traum mit der Vorstellun­g, dass all unsere Körper ein Körper sind. Verletze ich jemanden, verletze ich mich selbst. Diese Einsicht könnte die Grundlage für Identität und Gemeinscha­ft bilden. Im Traum erschien mir das als Weisheit. Nach dem Erwachen konnte ich darüber nur im Konjunktiv denken.

„... damit brach die alte Frage in ihm wieder auf, wer er denn in Wirklichke­it war und was zum Henker er mit diesem Ganzen

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria