Koinzidenz, genannt Leben
In „Die Ahnungslosen“lässt Wolfgang Popp eine Reihe von Zufällen abschnurren.
Weißt du, wie sie ihn damals genannt haben?“Dann wird es still. Die Finger gleiten über das Chassis des französischen Automobils. „Die Göttin“, lautet die Antwort. La déesse. Oder: Citroën DS. Ein Detail unter vielen, ein Exkurs unter vielen, einschließlich haariger, in dem kaleidoskopischen Roman Die Ahnungslosen des Wiener Autors Wolfgang Popp. Zahlreiche Charaktere treten in vielen längeren bis sehr kurzen Kapiteln auf in dieser Kettenrevue der Koinzidenz, genannt Leben.
Da gibt es den Musiker Raul, der nach erfolglosen Jahren in den USA zurückgekehrt ist in die Stadt, aus der er aufgebrochen war. Zufällig wird er Verkäufer in einer Papeterie. Im Lauf mehrerer Wochen musiziert er sich von einem ersten, gut aufgenommenen Auftritt bis ins Musikstudio. Walt, der Bruder der Papierladeninhaberin Kri, ist Künstler. Hat eine Affäre mit der verheirateten Dio. Deren Mann Florian handelt mit Autos. Und kommt durch den Filmausstatter Tim, der einst fast mit Raul nach Amerika aufgebrochen wäre, in Kontakt mit einem Filmregisseur, der ihn als betrogenen Ehegatten besetzt.
Vom Reisen und Entdecken
Dann gibt es Martha, Zugehfrau, Haushälterin, Köchin, die aus Osteuropa stammt und ein antiquiertes Deutsch spricht, aber einen durchdringenden Blick besitzt, sodass sie geheime Amouren detektiert. Dazu gesellt sich die Galeristin Lara, liiert mit dem Ex-Mann von Kri. Walts Zeichnungen will sie eigentlich nicht ausstellen. Aus gutem Grund. Sie hat ihre Freundin Dio mit Walt in einem Museum überrascht. Stellt dann aber doch die Arbeiten aus. Und verkauft sie derart gut, dass Walt zum Shootingstar mutiert.
Und da ist Susanne, die zu ihrer fast 100 Jahre alten Großmutter Klarissa nach Kambodscha reist, von einem Insekt gestochen wird und ins Spital kommt. Ihr Freund Tim – der Filmausstatter – kommt nachgeflogen und ist bald fasziniert vom bewegten Leben Klarissas. Ein halbes Jahrhundert zuvor verlor sie ihren Mann, einen damals in Asien populären Autor von Spannungs- und Trivialromanen, durch einen Autounfall und musste sich ein neues, eigenständiges Leben aufbauen. Hier kommt etwas ins Romanspiel, was aus den früheren Büchern des Wieners, Sinologe, zeitweilig Reiseleiter und heute Radiokulturredakteur, bekannt ist: die Lust an der Fremde, am Reisen, am Entdecken.
Die Ahnungslosen ist der Versuch eines Großstädterreigens, ein Erzählspiel mit dem Erzählen an sich. Wobei Popp manchmal sein Mut zur waghalsigen Metaphorik im Wege steht. Viele Miniromane finden sich hier, Betrachtungen über das Zeichnen oder sehr Realistisches über das Lügen in Paarbeziehungen dieser Ahnungslosen. Die Leben ahnen, und Liebe, irgendwo.
Wolfgang Popp, „Die Ahnungslosen“. Roman. € 24,– / 280 Seiten. Edition Atelier, Wien 2018
Zwei Jahrzehnte liegt der Krieg auf dem Balkan zurück. Aber „jene alles verwüstenden Jahre“nehmen kein Ende. Sie dauern immer noch an. In seinem Roman Der Kadaverräumer sucht Zoltán Danyi zu begreifen, was der Krieg mit den Menschen angerichtet hat. Sein Protagonist, der die Aufgabe hatte, tote Tiere von den Straßen zu beseitigen und dabei einen erschütternden Blick in das wahre Geschehen bekam, ringt verzweifelt darum, sich dem Strom verstörender Erinnerungen zu entziehen.
„Kein Volk kann im Vergessen leben“, warnte der Schriftsteller Bora Ćosić. War es die Angst, die Grausamkeiten der jugoslawischen Zerfallskriege würden dem Vergessen anheimfallen, die Sie zu Ihrem Roman veranlasste?
Da kamen bei mir viele Emotionen zusammen. Die Angst vor dem Vergessen war eine. Aber ich fürchtete auch, meine für sicher gehaltene Welt könnte einstürzen. Ich war wütend darüber, dass mein Leben von einem Krieg bedroht wurde, mit dem ich rein gar nichts zu tun hatte. Wahrscheinlich empfand ich einen ebensolchen Hass auf den Krieg wie der, der den Krieg antrieb.
Zwei Jahrzehnte ist der Krieg her. Brauchten Sie so lange, um eine Sprache für das unfassbare Geschehen zu finden?
Dieser Krieg war nicht unfassbar. Im Gegenteil, es war logisch, dass es zu ihm kam. Darum wollte ich mich nicht mit ihm beschäftigen. Er schien mir keiner literarischen Auseinandersetzung wert. Ich schrieb Gedichte über Bäume und vereiste Flüsse. Von diesem Krieg der Serben, Kroaten und Bosnier wollte ich nicht behelligt werden. Das Land konnte ich nicht verlassen. Ich musste bleiben, obwohl mein Land nicht mehr existierte. Aber ich versuchte, mein Leben weiterzuführen, als hätte es keinen Krieg gegeben. Plötzlich bekam ich Kopfschmerzen, Herzklopfen und Panikattacken. Ich hatte mir etwas vorgemacht. Ich war total verstrickt in diesen Krieg. Er hatte mein Leben so zerstört wie das vieler anderer. Ich erlitt genau das Schicksal, dem ich hatte entkommen wollen.
War dann der Roman für Sie der Weg, dieses traumatische Schicksal zu verarbeiten?
Literatur eignet sich nicht zur Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen. Aber wenn man glaubwürdig beschreibt, wie man sich anstrengt, sie zu bewältigen, und dennoch scheitert, kann daraus ein Stück Literatur werden. Ich konzentrierte mich beim Schreiben nur auf meine Sätze, den Rhythmus und den Puls der Sprache. Sie halfen mir, meine Geschichte zu erzählen.
Im Roman verweisen Sie auf die 1991 gegründete serbische Fleischfabrik, mit der man ausdrücken könne, „worum es hier in den letzten mehr als zehn Jahren gegangen war, nicht nur in Serbien, sondern auf dem gesamten Balkan“. Um ein Abschlachten?
Wenn wir es vereinfachen, war es eine Schlächterei. Aber dann verliert die Metapher des Schlachthauses ihre Kraft. Um zu verstehen, was in diesem Krieg geschah, las ich Ivo Andrićs Roman Die Brücke über die Drina. Darin gibt es eine Szene, in der Andrić ausführlich eine Pfählung schildert. Das taten Menschen vor ein paar Hundert Jahren einander an. Aber solche Erfahrungen verschwinden nicht. Sie hinterlassen Spuren. Als ich Andrićs Roman las, hatte ich das Gefühl, dass sein Roman weitergeht und bei uns sein nächstes Kapitel stattfindet.
Auch Historiker suchen die Wurzeln dieses Krieges in der Vergangenheit und sehen ihn als Spätfolge des Ersten Weltkrieges ...
Ich betrachte Geschichte mehr aus der Perspektive der Literatur. Die Ursachen des Ersten Weltkrieges verstand ich nach der Lektüre von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Folgt man den subtilen Änderungen der Empfindungen und Gefühle und den weniger subtilen Änderungen der politischen Ansichten, die Proust beschreibt, merkt man, wie sie in eine Situation führen, in der Krieg unvermeidlich wird. Enttäuschungen, Kränkungen und Wut sammeln sich wie Bäche zu einem unkontrollierbaren Strom. So beginnen Kriege. Die Metapher mag irreführend sein, weil Kriege zumeist vermeidbar sind und es andere Lösungen gibt. Dennoch kommt es immer wieder zu Kriegen.
Die Bibliothek von Sarajewo mit ihren tausenden arabischen, türkischen und persischen Manuskripten galt als Symbol für ein friedliches Miteinander. Ihre Zerstörung vernichtete zugleich die Erinnerung daran. Wie beurteilen Sie die Wirkung ihrer Zerstörung?
Bücher zu verbrennen ist keine balkanische, sondern eine europäische Gepflogenheit. Die Zerstörung der Bibliothek sehe ich nicht unbedingt als Symbol an. Menschen gehen häufiger auf Märkte als in Bibliotheken. Wenn ich ein symbolisches Ereignis in diesem Krieg benennen sollte, wäre es der Beschuss des Marktplatzes von Sarajewo. Aber wenn ich an diese Tragödie denke, fällt mir auch die Komödie der UNFriedenstruppe ein, die dem Angriff folgte. Ihre Unfähigkeit zu bestimmen, wer die Angreifer waren, ist wahrscheinlich das wichtigste Symbol dieses Krieges. Wir wollen nicht wissen oder weigern uns zuzugeben, wer die Schuldigen waren.
Sie schreiben von den „hageren Männern vom Balkan mit ihrer knochigen Statur“, die „immer wieder versuchen, sich gegenseitig auszurotten“. Ist der Balkan ein dauernder Kriegsschauplatz?
Die Männer vom Balkan sind nicht kriegerischer als andere Menschen. Sie leben an einem Ort, an dem große Kulturen zusammenkommen und manchmal aneinandergeraten. Alle 30, 40 Jahre stoßen sie zusammen. Geschichte an Orten wie diesem wird stürmisch. Aber wir können eine Menge tun, um die Risiken der Konflikte zu vermeiden. Ich bin davon überzeugt, dass Kränkungen überwunden werden können, Versöhnung möglich ist. Als ich den Roman beendet hatte, erwachte ich aus einem Traum mit der Vorstellung, dass all unsere Körper ein Körper sind. Verletze ich jemanden, verletze ich mich selbst. Diese Einsicht könnte die Grundlage für Identität und Gemeinschaft bilden. Im Traum erschien mir das als Weisheit. Nach dem Erwachen konnte ich darüber nur im Konjunktiv denken.
„... damit brach die alte Frage in ihm wieder auf, wer er denn in Wirklichkeit war und was zum Henker er mit diesem Ganzen