Visualisierte Zeitgeschichte
Wir hatten alle alles verloren. Wir hatten alle Stand und Rang und Namen, Haus und Geld und Wert verloren, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Jeden Morgen, wenn wir erwachten, jede Nacht, wenn wir uns schlafen legten, fluchten wir dem Tod, der uns zu seinem gewaltigen Fest vergeblich gelockt hatte“, schrieb Joseph Roth 1938, kurz vor seinem Tod, in der Kapuzinergruft über die Dekaden nach dem Ersten Weltkrieg, nach 1918, nach dem Ende einer trügerischen, aber trauten Hegemonie eines reichen und mächtigen Vielvölkerstaates, nach dem Untergang der Doppelmonarchie ÖsterreichUngarn. Roths Wortwahl war symptomatisch für „den Staat, den keiner wollte“. Die junge, teils pubertierende Republik dilettierte in den Abgrund. Nationalismen und scheinbar unüberbrückbare Gegensätze sozialer Milieus prägten die Ära der Zwischenkriegszeit. Inklusive Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung und Aufhetzung. Eindrucksvoll zeigt dies Anton Holzer in der von ihm und Matti Bunzl kuratierten Ausstellung im Wien-Museum. Akkordiert ist selbige mit der bildgewaltigen und perfekt strukturierten Publikation. Die erkämpfte Republik, so der treffsichere Titel, zeigt Unwägbarkeiten, Probleme und Chancen. „Ein welthistorischer Tag ist vorbei. In der Nähe sieht er nicht sehr großartig aus“, notierte Arthur Schnitzler am 12. November 1918 in seinem Tagebuch – als Reaktion auf postulierte Erwartungen und die Realität. Gregor Auenhammer
Anton Holzer, „Die erkämpfte Republik. 1918/19 in Fotografien“. € 25,– / 208 Seiten. Residenz, Wien 2018. Tipp: Die gleichnamige Ausstellung zeigt das Wien-Museum am Karlsplatz bis 3. 2. 2019. Agenda Lesen ab 13