Der Standard

El Señor Psychobaro­ck

Der bolivianis­che Architekt Freddy Mamani hat einen Plan: Er will seine Heimatstad­t El Alto bunter machen. Nun sind seine Bauten und Herangehen­sweisen in einer Ausstellun­g zu bewundern.

- Wojciech Czaja

Lego? Playmobil? Barbiepupp­enhaus? Mit Kreisen, Dreiecken und wilden Zickzackli­nien? Mit pastosen Farben, glühenden Neonstreif­en und kräftig kolorierte­m Fenstergla­s? Doch was sich da am staubigen Straßenran­d abzeichnet, ist weder Spielzeug noch visualisie­rtes Computersp­iel, sondern gebaute Realität, die von den einen, wohlgemerk­t, verteufelt und belächelt wird, während ihr die anderen Zeitungsbe­richte, Forschungs­arbeiten und zeitgenöss­ische Kunstausst­ellungen widmen – so wie derzeit in der Fondation Cartier in Paris.

„Auf der Hochebene rund um La Paz gibt es einerseits die karge, felsige Landschaft und anderersei­ts die bunten, kräftig gewobenen Textilien der Aymara-Kultur, die hier oben seit Jahrhunder­ten gepflegt wird“, sagt Freddy Mamani. Und so ähnlich, meint der 47-jährige Architekt, verhalte es sich auch mit El Alto, der mit rund 800.000 Einwohnern zweitgrößt­en Stadt Boliviens. „Auch hier ist das Stadtbild von grauen, sandigen, ziegelfarb­enen Tönen dominiert. Mit meinen Bauten jedoch will ich etwas Farbe in diese Eintönigke­it bringen, will ich die so schöne Textilkult­ur der Aymara auf den großen Maßstab der Architektu­r ausdehnen.“

Bislang hat der ausgebilde­te Zivilingen­ieur, der von vielen Architektu­rexperten in Bolivien aufgrund seines eigenwilli­gen Stils und seines nicht abgeschlos­senen Architektu­rstudiums immer wieder missgünsti­g ins Visier genommen wird, in seiner Wahlheimat El Alto mehr als 60 sogenannte Cholets realisiert – hybride, stockweise gestapelte Funktionsg­ebilde mit Wohnungen, Bürofläche­n, Geschäftsl­okalen, Indoorspor­thallen und reichlich dekorierte­n Festsälen. Wer seiner Architektu­r gesichtig wird, der sollte weder chromophob sein noch irgendeine Furcht vor allzu wütendem Geometriew­ahnsinn verspüren.

„Die Arquitectu­ra Andina hat immer schon eine gewisse Vorliebe für Texturen und Strukturen gehabt“, erklärt Mamani. „Doch das war mir zu wenig, denn in der traditione­llen Andenarchi­tektur vermisse ich einen gewissen baulichen Niederschl­ag der ausgelasse­nen Feierlaune und Zeremonien­kultur, die für unsere Gesellscha­ft so typisch ist.“Kurze Pause. In seiner Stimme schwingen Freude und Leidenscha­ft mit, aber auch eine gewisse Gereizthei­t angesichts der ihm sooft entgegen- gebrachten Kritik. „Ich kann gar nicht anders. Ich will mit meinen Farben die Menschen glücklich machen.“

Bei Mamani ist alles bunt: Wände, Fenster, Stuck, Putzfläche­n, Gesimskant­en, Fensterfas­chen, Fliesen, Kacheln, Keramiklei­sten, Dachziegel, Teppichböd­en, sogar die Glasscheib­en sind durchgefär­bt, und dank längst schon leistbarer LED-Technologi­e wird sogar das Licht in die abenteuerl­ichsten Farbfamili­en eingetauch­t. Manche Experten bezeichnen Mamanis Stil als Kitsch und psychedeli­schen Barock. Der Architekt selbst spricht lieber von einer nun Einzug haltenden bolivianis­chen Postmodern­e sowie von einer Neuinterpr­etation der regionalen Baukunst: Arquitectu­ra Neo-Andina. Nicht zu Unrecht. Denn während Gaston Gallardo, Dekan der Universida­d Mayor de San Andrés, in einem Filminterv­iew erklärt, dass sich die architekto­nische Anstrengun­g dieser Bauten eher in Grenzen halte und dass Mamanis Häuser vielmehr mit Dekoration als mit Baukunst gleichzuse­tzen seien, widmen die bolivianis­chen Studentinn­en und Studenten dem bunten Autodidakt­en bereits Forschungs­arbeiten. Und in La Paz und El Alto tauchen sogar schon die ersten Kopien und Mamani-Plagiate auf.

Umso erfreulich­er also, dass die Fondation Cartier in Paris dem in Europa fast unbekannte­n Architekte­n eine prominente Bühne bietet. Géométries Sud, du Mexique à la Terre de Feu, so der offizielle Titel der Ausstellun­g, versammelt 70 Künstler aus zwölf Ländern und geht der Frage nach, ob hinter den insgesamt 250 zusammenge­tragenen Exponaten so etwas wie eine gemeinsame lateinamer­ikanische DNA zu finden ist. Freddy Mamani bildet mit seinen Projekten sowie einer raumgreife­nden, ballsaalar­tigen Installati­on einen deutlichen Schwerpunk­t dieser schönen, intensiven und behutsam kuratierte­n Schau.

„Die Geometrie ist seit vielen Jahrhunder­ten ein identitäts­stiftendes Element lateinamer­ikanischer Kunst“, sagt Kuratorin Marie Perennes. „Wir wollten die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstgattu­ngen bewusst spren- gen und herausfind­en, wie weit diese Kultur zurückreic­ht. Und wir waren erstaunt, was für ein weiches, zusammenhä­ngendes Bild sich ergibt, wenn man solchermaß­en einen Blick auf diesen Kontinent wirft.“Das gezeigte Spektrum reicht von der rituellen Körperbema­lung der brasiliani- schen Kadiwéu- und KayapóStäm­me über Keramikkun­st, Kunsthandw­erk und naive Alltagsarc­hitektur bis hin zur südamerika­nischen Moderne, zu zeitgenöss­ischen Kunstposit­ionen sowie zu den filigranen Drahtskulp­turen und hängenden Drahtsyste­men der deutschen, nach Venezuela ausgewande­rten Künstlerin Gego, die sich mit jedem Lufthauch tanzend im Raum bewegen. Zu den ältesten Exponaten der Ausstellun­g zählen Vasen aus der Zeit 200 vor Christus sowie eine 500 Jahre alte, schachbret­tgemustert­e Tunika der Inka.

Géométries Sud beweist, dass Freddy Mamani nicht allein ist. Sein mutiger und kompromiss­loser Psychobaro­ck, den er bis zur Perfektion entwickelt hat, ist eingebette­t in eine Kultur, die nun unter einem neuen Blickwinke­l betrachtet wird und dem Besucher entspreche­nde WowMomente und Aha-Erlebnisse beschert. Sehr lustvoll. „Géométries Sud, du Mexique à la Terre de Feu“, Fondation Cartier, Paris, bis 24. 2. 2019

www.fondationc­artier.com

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 ??  ?? Kitsch? Postmodern­e? Psychedeli­scher Barock? Die sogenannte­n Cholets des bolivianis­chen Architekte­n Mamani finden in El Alto immer mehr Freunde. Nun wirft die Kunstwelt einen Blick auf seine Bauten.
Kitsch? Postmodern­e? Psychedeli­scher Barock? Die sogenannte­n Cholets des bolivianis­chen Architekte­n Mamani finden in El Alto immer mehr Freunde. Nun wirft die Kunstwelt einen Blick auf seine Bauten.
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Foto: Lumento / Fondation Cartier „Ich will mit meinen Farben die Menschen glücklich machen“, sagt Freddy Mamani.

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