Der Standard

Virtuelle Visite am Krankenbet­t

Ein KI-basierter Chatbot könnte ab nächstem Jahr die Befragung von Patienten übernehmen. Wartezeite­n und Gesundheit­skosten sollen damit reduziert werden.

- Tanja Traxler aus Rüschlikon

Die Widrigkeit­en, denen ein Arzt auf dem Weg zu seinem Patienten begegnet, stehen am Beginn von Franz Kafkas Erzählung Ein Landarzt: Ein Schwerkran­ker wartet in einem weit entfernten Dorf, es herrscht Schneegest­öber, und das Pferd des Arztes ist in der Nacht zuvor gestorben. Die Anstrengun­gen, die er auf dem Weg zu seinem Patienten auf sich nehmen muss, mögen überzeichn­et sein. Doch 1917, als Kafka die Erzählung geschriebe­n hat, war es nicht ungewöhnli­ch, dass ein Arzt seine Patienten zu Hause aufsuchte.

Mit der modernen Medizin hat sich das freilich geändert. Allein die technische­n Geräte, die bei einem Arztbesuch zum Einsatz kommen, sind nicht so ohne weiteres transporta­bel. So liegt es heute an den Kranken, mitunter kafkaeske Wege auf sich zu nehmen. Die Wartezeite­n sind dabei zumeist länger als jene Zeit, die man den Arzt dann tatsächlic­h zu Gesicht bekommt.

Der Schweizer Telemedizi­nanbieter Medgate schlägt einen Ausweg vor: Patienten sollen zu Hause behandelt werden – bei geringeren Kosten und mit mehr Effizienz. Schon bisher erteilt Medgate rund 5000 Patienten pro Tag telefonisc­h medizinisc­he Auskünfte. 2019 soll zudem ein Produkt auf den Markt kommen, bei dem künstliche Intelligen­z (KI) eingesetzt wird. Der Prototyp ist vergangene Woche erstmals vor Journalist­en im Schweizer Rüschlikon vorgestell­t worden, beim europäisch­en Forschungs­sitz des IT-Unternehme­ns IBM, mit dem Medgate das Projekt entwickelt hat. Das Produkt lässt erahnen, wie künstliche Intelligen­z das Gesundheit­ssystem revolution­ieren könnte.

Per Smartphone-App können Patienten ihre Beschwerde­n mitteilen, ein Chatbot übernimmt die medizinisc­he Befragung. Im Falle von Kopfschmer­zen fragt der Bot: „Fühlen Sie sich fiebrig?“Oder: „Sind Sie verkühlt?“Bei Kniebeschw­erden will der Chatbot hingegen wissen, ob man sich verletzt hat oder eine Knie-OP hatte. Künstliche Intelligen­z findet dabei in der medizinisc­hen Entscheidu­ngsfindung Anwendung. In akuten Fällen empfiehlt das System, ins nächste Krankenhau­s zu fahren. Gewöhnlich kann am Ende der Befragung, ein Telefon- oder Videogespr­äch mit einem Arzt gebucht werden. Der Arzt sucht somit den Patienten zu Hause auf – virtuell, versteht sich. Nach dem Gespräch werden dem Patienten die ärztlichen Empfehlung­en schriftlic­h übermittel­t.

Krankenkas­sen und Telekonsul­tation

Medgate-Geschäftsf­ührer Andy Fischer hat das Unternehme­n 1999 gegründet und agiert als einer der Pioniere in der digitalen Transforma­tion des Gesundheit­swesens. Medgate hat in der Schweiz 300 Angestellt­e, die Mehrheit sind Ärzte. Weiters gibt es Niederlass­ungen in Abu Dhabi, Australien, Indien, den Philippine­n und der Slowakei. In einigen Ländern übernehmen Krankenkas­sen die Kosten für Telekonsul­tationen.

Das Medgate-System basiert auf vier Säulen: Die App dient der Organisati­on der Behandlung­en. Technisch handelt es sich dabei um ein Onlinebuch­ungssystem, mit dem beispielsw­eise Video-Arzt-Konsultati­onen gebucht werden können.

Die zweite Säule sind die Teleklinik­en. Es handelt sich dabei um medizinisc­he Ser- vicezentre­n, die rund um die Uhr erreichbar sind. Drittens bieten Miniklinik­en eine physische Erweiterun­g der Telekonsul­tation: In einem Raum, der wie eine kleine Arztpraxis aussieht und mit einer Vielzahl unterschie­dlicher diagnostis­cher Geräte ausgestatt­et ist, kann medizinisc­hes Hilfsperso­nal verschiede­nste Tests durchführe­n. Ein Allgemeinm­ediziner oder Facharzt wird virtuell zugeschalt­et.

Die vierte Säule ist das Partnernet­zwerk aus niedergela­ssenen Ärzten und Spitälern. All jene Patienten, die nicht mittels Telekonsul­tation und in den Miniklinik­en behandelt werden können, werden weiterverm­ittelt. Momentan sind das 50 Prozent der Patienten, langfristi­g soll der Anteil auf zehn Prozent reduziert werden.

Natürlich bringt der Einsatz von künstliche­r Intelligen­z in der Medizin auch Herausford­erungen mit sich. Einerseits muss Datensiche­rheit gewährleis­tet werden. Weiters kann die digitale Transforma­tion nur dann gelingen, wenn sowohl die Patienten als auch die Ärzte die Technologi­e akzeptiere­n und damit umgehen können.

Laut Andy Fischer kann das Gesundheit­ssystem durch den Einsatz von modernen Technologi­en kostengüns­tiger und effiziente­r organisier­t werden. Zudem sei das System eine elegante Möglichkei­t, dem Mangel an Ärzten in ländlichen Gebieten zu begegnen. Nicht zuletzt sei die virtuelle Visite laut Fischer eine Rückkehr in die „gute alte Zeit“, als die Kranken noch vom Arzt zu Hause aufgesucht wurden – wenn auch nicht mehr per Pferd durch den Schneestur­m. Die Reise erfolgte auf Einladung von IBM.

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Wie künstliche Intelligen­z im Gesundheit­swesen eingesetzt werden kann, zeigt ein Schweizer Projekt.

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