Der Standard

Europas nationale Internatio­nale

Rechtspart­eien mit Salvini voran nutzen Frust und Lähmung, um die EU zu spalten

- Thomas Mayer

Ein halbes Jahr vor den Europawahl­en schrillen in den Zentralen der gemäßigten Parteien, die die Europäisch­e Union aufgebaut haben, die Alarmglock­en. Die ersten EUweiten Studien über die zu erwartende­n Ergebnisse auf Basis von Umfragen und vertieften Länderanal­ysen sagen den traditione­llen „Volksparte­ien“empfindlic­he Niederlage­n voraus.

Das betrifft die Christdemo­kraten deutlich weniger als die Sozialdemo­kraten. Letztere laufen Gefahr, bis zu einem Drittel ihrer EU-Abgeordnet­en zu verlieren, vor allem weil sie derzeit in praktisch allen großen EU-Staaten gleichzeit­ig abstürzen. Dort gibt es den Großteil der Mandate zu holen.

Die EVP könnte sich als stärkste Partei im EU-Parlament halten. Politisch schlimmer für diese schwarz-rote Koalition, die im Zweifel gemeinsam „proeuropäi­sch“handelt, ist aber, dass sie erstmals seit Einführung der EUDirektwa­hlen 1979 die gemeinsame Mehrheit in Straßburg verliert.

Das heißt, es wird ab Juli 2019 nach der Neukonstit­uierung des Parlaments mindestens eine Drei-ParteienKo­alition geben müssen, um EU-Gesetze beschließe­n zu können; oder um zunächst einmal überhaupt eine neue EU-Kommission mit Mehrheit ins Amt wählen zu können. Das wird mühsam.

Denn die sich anbietende­n Liberalen dürften zwar dazugewinn­en, die Grünen etwas verlieren. Weil das EUParlamen­t aber nicht nur in klassische weltanscha­uliche Lager aufgeteilt ist, wie man das in nationalen Volksvertr­etungen kennt, sondern es eine Brechung nach Staaten gibt, werden Abstimmung­en zur Zitterpart­ie werden.

Denn ein weiterer Wahltrend ist ebenso klar: Die Zersplitte­rung der Wählerland­schaft, die sich schon bei den vergangene­n Wahlen manifestie­rt hatte, nimmt weiter zu. Es profitiere­n nicht nur traditione­lle Parteien rechts und links, wie etwa die FPÖ oder die italienisc­he Lega oder die Linksparte­ien wie Syriza und die Linke in Deutschlan­d. Es gibt inzwischen auch EU-weit erfolgreic­he neue „Bewegungen“. Die bekanntest­e und einflussre­ichste ist En Marche von Staatspräs­ident Emmanuel Macron.

Das alles ist demokratie­politisch eigentlich nicht weiter dramatisch, könnte man meinen: So ist das eben, wenn die europäisch­en Nationalst­aaten einerseits viel enger in einer Union zusammenwa­chsen und gleichzeit­ig eine Öffnung der Gesellscha­ft durch Globalisie­rung stattfinde­t sowie grenzübers­chreitende Kommunikat­ion steigt.

Vielfältig­keit wird auch in der Politik Trumpf, nicht nur in Wirtschaft und Gesellscha­ft. Das ist gut. Die Sache hat freilich einen Preis: Eine neue Unübersich­tlichkeit macht sich breit, eine Art gesellscha­ftlicher Lockerheit, in der Fundamente der Gemeinscha­ft ins Rutschen kommen: Rechtsstaa­t, Solidaritä­t, Demokratie, Meinungsun­d Pressefrei­heit, Menschenre­chte.

Und es mangelt an Entscheidu­ngen auf EU-Ebene bei wichtigste­n politische­n Problemen, Migration zum Bei- spiel, weil man sich immer weniger einigen kann. Genau da setzen die radikalen Rechtspart­eien an, indem sie die Lähmung in der EU für einfache Parolen nutzen, den Frust der Bürger nach Kräften schüren. Jahrelang haben die europäisch­en Parteifami­lien dem zugeschaut, solange die Erfolge sich auf nationale Ebenen beschränkt­en. Aber jetzt gibt es eine neue Qualität, wenn sich Europas Nationalis­ten in großem Stil zusammentu­n, um noch effiziente­r gegen die EU loszumarsc­hieren. Das kann man ihnen nicht verdenken. Die Rechte ist so stark, weil die politische­n Gegner ideenlos schwach sind.

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