Europas nationale Internationale
Rechtsparteien mit Salvini voran nutzen Frust und Lähmung, um die EU zu spalten
Ein halbes Jahr vor den Europawahlen schrillen in den Zentralen der gemäßigten Parteien, die die Europäische Union aufgebaut haben, die Alarmglocken. Die ersten EUweiten Studien über die zu erwartenden Ergebnisse auf Basis von Umfragen und vertieften Länderanalysen sagen den traditionellen „Volksparteien“empfindliche Niederlagen voraus.
Das betrifft die Christdemokraten deutlich weniger als die Sozialdemokraten. Letztere laufen Gefahr, bis zu einem Drittel ihrer EU-Abgeordneten zu verlieren, vor allem weil sie derzeit in praktisch allen großen EU-Staaten gleichzeitig abstürzen. Dort gibt es den Großteil der Mandate zu holen.
Die EVP könnte sich als stärkste Partei im EU-Parlament halten. Politisch schlimmer für diese schwarz-rote Koalition, die im Zweifel gemeinsam „proeuropäisch“handelt, ist aber, dass sie erstmals seit Einführung der EUDirektwahlen 1979 die gemeinsame Mehrheit in Straßburg verliert.
Das heißt, es wird ab Juli 2019 nach der Neukonstituierung des Parlaments mindestens eine Drei-ParteienKoalition geben müssen, um EU-Gesetze beschließen zu können; oder um zunächst einmal überhaupt eine neue EU-Kommission mit Mehrheit ins Amt wählen zu können. Das wird mühsam.
Denn die sich anbietenden Liberalen dürften zwar dazugewinnen, die Grünen etwas verlieren. Weil das EUParlament aber nicht nur in klassische weltanschauliche Lager aufgeteilt ist, wie man das in nationalen Volksvertretungen kennt, sondern es eine Brechung nach Staaten gibt, werden Abstimmungen zur Zitterpartie werden.
Denn ein weiterer Wahltrend ist ebenso klar: Die Zersplitterung der Wählerlandschaft, die sich schon bei den vergangenen Wahlen manifestiert hatte, nimmt weiter zu. Es profitieren nicht nur traditionelle Parteien rechts und links, wie etwa die FPÖ oder die italienische Lega oder die Linksparteien wie Syriza und die Linke in Deutschland. Es gibt inzwischen auch EU-weit erfolgreiche neue „Bewegungen“. Die bekannteste und einflussreichste ist En Marche von Staatspräsident Emmanuel Macron.
Das alles ist demokratiepolitisch eigentlich nicht weiter dramatisch, könnte man meinen: So ist das eben, wenn die europäischen Nationalstaaten einerseits viel enger in einer Union zusammenwachsen und gleichzeitig eine Öffnung der Gesellschaft durch Globalisierung stattfindet sowie grenzüberschreitende Kommunikation steigt.
Vielfältigkeit wird auch in der Politik Trumpf, nicht nur in Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist gut. Die Sache hat freilich einen Preis: Eine neue Unübersichtlichkeit macht sich breit, eine Art gesellschaftlicher Lockerheit, in der Fundamente der Gemeinschaft ins Rutschen kommen: Rechtsstaat, Solidarität, Demokratie, Meinungsund Pressefreiheit, Menschenrechte.
Und es mangelt an Entscheidungen auf EU-Ebene bei wichtigsten politischen Problemen, Migration zum Bei- spiel, weil man sich immer weniger einigen kann. Genau da setzen die radikalen Rechtsparteien an, indem sie die Lähmung in der EU für einfache Parolen nutzen, den Frust der Bürger nach Kräften schüren. Jahrelang haben die europäischen Parteifamilien dem zugeschaut, solange die Erfolge sich auf nationale Ebenen beschränkten. Aber jetzt gibt es eine neue Qualität, wenn sich Europas Nationalisten in großem Stil zusammentun, um noch effizienter gegen die EU loszumarschieren. Das kann man ihnen nicht verdenken. Die Rechte ist so stark, weil die politischen Gegner ideenlos schwach sind.