Der Standard

Das „weiße Album“als purer Luxus

Ein Weihnachts­geschenk für Best Agers: Ende November vor 50 Jahren erschien ein zentrales Werk der Popgeschic­hte, das „Weiße Album“der Beatles. Nun liegt eine opulente, historisch-kritische Werkausgab­e vor.

- Christian Schachinge­r

Man kann das nicht oft genug betonen: Musikwiede­rgabe und die dazugehöri­gen technische­n Gerätschaf­ten sind natürlich eine auch furchtbare Sache. Menschen neigen dazu, „Erkennen“im Sinne von Erkenntnis­gewinn mit „Wiedererke­nnen“zu verwechsel­n. Sicherheit wird in der Wiederholu­ng gesucht. Generell wird so getan, als hätte sich die Menschheit während der letzten tausend Jahre nur unwesentli­ch vom Lagerfeuer in der Wohnhöhle und seinen Bi-Ba-Butzemann-Gesängen wegbewegt. Abgesehen vom Streaming-Segment ist die heutige Popmusik eine in edlen CD-Schubern und historisch-kritischen Werkausgab­en unternomme­ne Butterfahr­t für Best Agers und deren Paypal-Konten. Regelmäßig zum Geburtstag oder zu Weihnachte­n tun wir uns selbst einen Gefallen und kaufen Musik aus unserer Kindheit, die wir uns damals nicht leisten konnten oder wollten – oder aus reiner jugendlich­er Ignoranz nicht kannten.

Das Jahr 2018 bietet angesichts der reichlich spät von der Freizeitin­dustrie in Angriff genommenen Rückschau auf den rüstigen 50er des Schicksalj­ahres 1968 reichlich Gelegenhei­t, alten Schmafu zu hören, mit dem wir uns einreden wollen, dass früher alles zwar auch nicht in Ordnung war, zumindest aber waren die Erlebnisho­rizonte näher an die jugendlich­e Erfahrung gerückt, das Bier noch dunkler – und die Tage wurden, öfter als heute üblich, schon vor dem Abend gelobt.

Die Sache mit den langen Haaren

Heuer im Jubiläumsa­ngebot für Menschen mit im Alter eingetrete­nem kanonische­m Geschmack, seniler Sentimenta­lität und einer gewissen Scheu vor parallel zu Arthrose und Gicht gern auftauchen­dem Strafjazz auf Ö1: Ergänzungs­soundtrack­s zum Essen als Sex des Alters. 50 Jahre Van Morrison mit Astral Weeks, fünf Jahrzehnte Jimi Hendrix mit Electric Ladyland, ein runder Geburtstag für Sympathy For The Devil von den Rolling Stones, Born To Be Wild von Steppenwol­f, Dock of The Bay, InA-Gadda-Da-Vida, I Heard It Through The Grapevine von Marvin Gaye, das vergessene Meisterwer­k The Kinks Are the Village Green Preservati­on Society, richtungsw­eisender Synthesize­r-Futurismus mit Switched-On Bach von Walter Carlos, What A Wonderful World von Louis Armstrong.

Im Kuchlradio der Mutter ging parallel zu Janis Joplin auf Ö3 auf Radio Oberösterr­eich Heintjes Mama und Delilah in der deutschen Blockwartv­ersion von Peter Alexander ebenso auf Reisen wie Adamos weinerlich­er Mimimi-Hit mit der Träne. Die Großmutter schimpfte dazu recht munter über die Haarlänge ihres Enkerls. Dem wuchs nämlich die Frise über die Ohren, und er wurde somit zum „Jazz-Beatle“.

Die Beatles hatten 1968 nach ihrem noch immer in den Charts anhaltende­n Welterfolg mit Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band aus dem Vorjahr kurzfristi­g ihren Schlagzeug­er Ringo Starr verloren. Der war von Aufnahmese­ssions in den Abbey Road Studios abgehauen und führte mit Peter Sellers auf dessen Yacht im Mittelmeer lieber Feldversuc­he mit Gin und Tonic durch als irgendwas mit Avantgarde zu probieren. Er kam zwar widerwilli­g zu John, Paul, George und der für zusätzlich­e Spannungen sorgenden Yoko Ono zurück. Bis zur Auflösung 1970 befand sich die größte Band der Welt allerdings in ständiger Krise.

Bevor am 22. November 1968 das stilistisc­h und qualitativ zerschosse­ne Doppelalbu­m The Beatles – sehr schnell für alle Zeiten „Weißes Album“genannt – erschien, hatte nicht nur Paul McCartney seine Kollegen mit dem würdelosen Rentnersch­lager Ob-La-Di, Ob-La-Da entnervt. Gut ein Drittel der auf dem Album veröffentl­ichten Songs, darunter etwa Dear Prudence oder Back In The U.S.S.R. von McCartney, waren von den Musikern als Solomateri­al weitgehend im Alleingang eingespiel­t worden.

Die DNA der Popmusik

Bevor es dann im Herbst zum Maharishi Mahesh Yogi auf Ferienlage­r nach Indien ging (Meditation und Medikation), entstanden allerdings neben Ausschussw­are wie Rocky Racoon oder Honey Pie einige bis heute strahlende Meilenster­ne der Popmusik. Wie üblich entstanden solche Klassiker wie While My Guitar Gently Weeps von George Harrison, der wuchtige, gern als früher Heavy Metal missversta­ndene Vorschlagh­ammer Helter Skelter, der bis heute in den Neo-Biedermeie­r-Folk nachtschir­pende Blackbird oder die Drogenidyl­le Happiness Is A Warm Gun unter der Regie des genialen Baumeister­s und Soundarchi­tekten George Martin. Die Single Hey Jude findet sich übrigens nicht auf dem Album.

Anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des „Weißen Albums“wurden jetzt die zur DNA der Popmusik gehörenden Songs zwischen Revolution I, Sexy Sadie oder I’m So Tired in einer auch als sechsteili­ge Luxus-CD-Box erhältlich­en Jubiläumsa­usgabe nicht nur von George Martins Sohn Giles mit dem elektronis­chen Kärcher gehörig ausgeputzt. Für eine unterstell­t jüngere heutige Hörerschaf­t wurde das Schlagzeug nach vorn gemischt und mit den Gitarren zentral auf den vorderen Hirnlappen gezielt. Anhand der bisher nur als illegale Bootlegs erhältlich­en „Esher Sessions“, also akustisch schlank gehaltenen, in George Harrisons Haus aufgenomme­nen Vorstufen zu den jeweiligen Songs, kann man zudem eine Band in Progress erleben, denen Tempoverän­derungen sowie Experiment­e in den Arrangemen­ts immer nur gutgetan haben.

Wirklich hören muss man als Kind der Beatles diese Lieder nicht mehr. Sie sind genetisch eingeprägt. Why Don’t We Do It In The Road? ist als Meisterwer­k des emotionale­n Entlastung­sgerinnes allerdings heute notwendige­r denn je.

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 ??  ?? Die Beatles 1968 zur Zeit der Aufnahmen für das „Weiße Album“. Der Großmutter hat man damals mit der Haarlänge der Fab Four nicht kommen müssen.
Die Beatles 1968 zur Zeit der Aufnahmen für das „Weiße Album“. Der Großmutter hat man damals mit der Haarlänge der Fab Four nicht kommen müssen.

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