Doppeltes Spiel mit den Wildschweinen
Wildschweine werden in Frankreich mehr und mehr zu einer Plage. Die Jäger, vom Staatschef umgarnt, spielen dabei eine zwielichtige Rolle.
Hubert Drouin ist ein Gentleman in Grün. „Denkt daran, Wildschweine sind nicht böse, sie verteidigen sich, was ihr gutes Recht ist“, sagt der hochgewachsene Jäger zu drei Dutzend Weidmännern, darunter zwei Frauen. „Heute werden wir nur Wildschweine jagen, von denen es ja reichlich gibt. Wenn ihr einem Rehbock begegnet, lüftet den Hut und geht weiter.“Die Runde lacht, dann ziehen alle rote Leuchtwesten an, damit sie einander später nicht mit einem vierbeinigen Geweihträger verwechseln.
Um 9.48 Uhr erschallt das Horn durch den Sologne-Wald bei Ménestreau-en-Villette, südlich von Orléans: Die Treibjagd beginnt. In der weiten U-Formation warten die Schützen mit ihren Karabinern darauf, dass ihnen die Hunderudel die Wildschweine von der offenen Seite her vor den Lauf treiben. Sie müssen nicht lange warten. Zwanzig Minuten später knallt der erste Schuss durch einen Birkenhain. Kurz darauf ein anderer Hornstoß. „Sie haben ihn“, ruft André Lutun, ein pensionierter Forstingenieur.
Sogleich wieder ins Flüstern verfallend erzählt er: „Hier wimmelt es von Wildschweinen, denn sie mögen die unberührte Natur der Sologne mit den Eichen und den vielen Weihern. Im ganzen Departement wird ihre Zahl bereits auf 30.000 geschätzt. Diese Saison hoffen wir, etwa 14.000 entnehmen zu können.“
„Entnehmen“statt „töten“
Jäger sagen lieber „entnehmen“als „töten“. Auf jeden Fall kommen sie nicht mehr nach damit, so Lutun: „Sie vermehren sich wie die Karnickel. Vielleicht auch wegen der Klimaerwärmung. Eine Muttersau wirft heute ein halbes Dutzend pro Jahr, womit sich die Familie in kurzer Zeit verdoppelt, wenn wir nicht eingreifen.“
In Frankreich wird die Zahl der „sangliers“(Wildschweine) heute auf zwei Millionen geschätzt, mehr als anderswo in Europa, wo die Plage teilweise auch dramatische Ausmaße annimmt. Und überall richten die Borstenträger mit ihren fingerlangen Eckzähnen massive Schäden an: Sie fressen Maiskulturen leer, zerstampfen Weizenfelder und reißen auf der Suche nach Würmern in einer einzigen Nacht ganze Wiesen auf. Immer tiefer dringen sie bis in die Vororte vor. Jedes Jahr verursachen sie in Frankreich Zehntausende von Verkehrsunfällen, von denen dutzende tödlich ausgehen – und nicht nur für das Tier.
Hier im Sologne-Wald weiß jeder Jäger eine Geschichte zu erzählen: von einer Spaziergängerin, die sich vor einem Eber auf einen Baum retten musste; vom TGV, der im Burgund nach einem Zusammenprall mit einem 100Kilo-Brocken stundenlang blockiert war. Und in Rennes seien zwei „sangliers“in ein Einkaufszentrum und dort in ein Schmuckgeschäft eingedrungen. „Und das in der Bretagne, wo die Wildschweinkeule seit Obelix’ Zeiten geschätzt sind!“, erzählt Lutun.
Tierschützer stellen nicht in Abrede, dass die Plage überhandnimmt. Sie sei ein Fanal dafür, dass die Natur allgemein aus dem Lot gerate, meint Jean Giroud vom französischen Verein für den Schutz der Wildtiere (Aspas): „Die Trockenheit dieses Sommers hat die Wildschweine auf der Suche nach Erdwürmern an künstlich bewässerte Orte getrieben. Sie dringen in Getreidefelder ein, aber sogar in Blumeninseln bei Kreisverkehren – daher die vielen Autounfälle.“
Schuld sind aber laut Giroud auch die Jäger selbst: „Viele Großgrundbesitzer nähren die Wildschweine in ihren Wäldern, um dann teure Jagdpartien – teils für 100 Euro pro Kunde und Nacht – zu organisieren. Dabei verschonen sie bewusst die Weibchen, damit für Nachwuchs gesorgt ist.“
So paradox es klingt: „Die Jäger sind für das Wachstum der Wildschweinbestände mitverantwortlich“, folgert Jean Mendy vom nationalen Jagdamt (ONCFS) in Orléans. Diese französische Wildpolizei bekämpft auch Importe von massigen Wildschweinen aus Osteuropa, die bei Großwildjägern beliebt sind – die aber auch Krankheiten einschleppen. In Belgien wurden bereits Wildschweine mit der Afrikanischen Schweinepest geschossen. Seither bringt das Oncfs an der Nordgrenze Frankreichs in aller Hast Elektrozäune an, um das Übergreifen ins Obelix-Land zu verhindern.
Auch der französische Bauernverband FNSEA hat den Jägern vorgeworfen, sie nährten die Wildschweine, die sie offiziell zu bekämpfen vorgäben. Als Antwort drohte der Jägerverband damit, die finanziellen Entschädigungen einzustellen. Seither schweigt der als so mächtig geltende Bauernverband wieder. Die Jäger sind im Agrarland Frankreich diskreter, aber stärker. Obwohl das kaum gesagt wird: Die Jäger sind in Frankreich mit 1,1 Millionen zahlreicher als die 900.000 Landwirte.
Macron will Jäger entlasten
Bei Wahlen verkörpern die „chasseurs“die ganze Landbevölkerung. Im September trat der populäre Umweltminister Nicolas Hulot zurück, weil er sich gegen die Jägerlobby nicht mehr durchsetzen konnte. Denn sie wird auch von Emmanuel Macron umgarnt. Der sehr „urbane“Staatschef will nun die Kosten des Jagdscheins von jährlich 400 Euro halbieren. Tierschützerin Brigitte Bardot schimpfte dieser Tage: „Die Regierung und Macron fallen vor den Jägern auf die Knie.“
Der Jägerzunft ein Doppelspiel bei der Wildschweinbekämpfung vorzuwerfen, käme dem Präsidenten auch nicht in den Sinn: Damit könnte er sich eine ganze Präsidentschaftswahl vermiesen. Die Wildschweine haben damit in Frankreich noch eine rosige Zukunft vor sich.