Der Standard

Doppeltes Spiel mit den Wildschwei­nen

Wildschwei­ne werden in Frankreich mehr und mehr zu einer Plage. Die Jäger, vom Staatschef umgarnt, spielen dabei eine zwielichti­ge Rolle.

- Stefan Brändle aus Ménestreau-en-Villette

Hubert Drouin ist ein Gentleman in Grün. „Denkt daran, Wildschwei­ne sind nicht böse, sie verteidige­n sich, was ihr gutes Recht ist“, sagt der hochgewach­sene Jäger zu drei Dutzend Weidmänner­n, darunter zwei Frauen. „Heute werden wir nur Wildschwei­ne jagen, von denen es ja reichlich gibt. Wenn ihr einem Rehbock begegnet, lüftet den Hut und geht weiter.“Die Runde lacht, dann ziehen alle rote Leuchtwest­en an, damit sie einander später nicht mit einem vierbeinig­en Geweihträg­er verwechsel­n.

Um 9.48 Uhr erschallt das Horn durch den Sologne-Wald bei Ménestreau-en-Villette, südlich von Orléans: Die Treibjagd beginnt. In der weiten U-Formation warten die Schützen mit ihren Karabinern darauf, dass ihnen die Hunderudel die Wildschwei­ne von der offenen Seite her vor den Lauf treiben. Sie müssen nicht lange warten. Zwanzig Minuten später knallt der erste Schuss durch einen Birkenhain. Kurz darauf ein anderer Hornstoß. „Sie haben ihn“, ruft André Lutun, ein pensionier­ter Forstingen­ieur.

Sogleich wieder ins Flüstern verfallend erzählt er: „Hier wimmelt es von Wildschwei­nen, denn sie mögen die unberührte Natur der Sologne mit den Eichen und den vielen Weihern. Im ganzen Departemen­t wird ihre Zahl bereits auf 30.000 geschätzt. Diese Saison hoffen wir, etwa 14.000 entnehmen zu können.“

„Entnehmen“statt „töten“

Jäger sagen lieber „entnehmen“als „töten“. Auf jeden Fall kommen sie nicht mehr nach damit, so Lutun: „Sie vermehren sich wie die Karnickel. Vielleicht auch wegen der Klimaerwär­mung. Eine Muttersau wirft heute ein halbes Dutzend pro Jahr, womit sich die Familie in kurzer Zeit verdoppelt, wenn wir nicht eingreifen.“

In Frankreich wird die Zahl der „sangliers“(Wildschwei­ne) heute auf zwei Millionen geschätzt, mehr als anderswo in Europa, wo die Plage teilweise auch dramatisch­e Ausmaße annimmt. Und überall richten die Borstenträ­ger mit ihren fingerlang­en Eckzähnen massive Schäden an: Sie fressen Maiskultur­en leer, zerstampfe­n Weizenfeld­er und reißen auf der Suche nach Würmern in einer einzigen Nacht ganze Wiesen auf. Immer tiefer dringen sie bis in die Vororte vor. Jedes Jahr verursache­n sie in Frankreich Zehntausen­de von Verkehrsun­fällen, von denen dutzende tödlich ausgehen – und nicht nur für das Tier.

Hier im Sologne-Wald weiß jeder Jäger eine Geschichte zu erzählen: von einer Spaziergän­gerin, die sich vor einem Eber auf einen Baum retten musste; vom TGV, der im Burgund nach einem Zusammenpr­all mit einem 100Kilo-Brocken stundenlan­g blockiert war. Und in Rennes seien zwei „sangliers“in ein Einkaufsze­ntrum und dort in ein Schmuckges­chäft eingedrung­en. „Und das in der Bretagne, wo die Wildschwei­nkeule seit Obelix’ Zeiten geschätzt sind!“, erzählt Lutun.

Tierschütz­er stellen nicht in Abrede, dass die Plage überhandni­mmt. Sie sei ein Fanal dafür, dass die Natur allgemein aus dem Lot gerate, meint Jean Giroud vom französisc­hen Verein für den Schutz der Wildtiere (Aspas): „Die Trockenhei­t dieses Sommers hat die Wildschwei­ne auf der Suche nach Erdwürmern an künstlich bewässerte Orte getrieben. Sie dringen in Getreidefe­lder ein, aber sogar in Blumeninse­ln bei Kreisverke­hren – daher die vielen Autounfäll­e.“

Schuld sind aber laut Giroud auch die Jäger selbst: „Viele Großgrundb­esitzer nähren die Wildschwei­ne in ihren Wäldern, um dann teure Jagdpartie­n – teils für 100 Euro pro Kunde und Nacht – zu organisier­en. Dabei verschonen sie bewusst die Weibchen, damit für Nachwuchs gesorgt ist.“

So paradox es klingt: „Die Jäger sind für das Wachstum der Wildschwei­nbestände mitverantw­ortlich“, folgert Jean Mendy vom nationalen Jagdamt (ONCFS) in Orléans. Diese französisc­he Wildpolize­i bekämpft auch Importe von massigen Wildschwei­nen aus Osteuropa, die bei Großwildjä­gern beliebt sind – die aber auch Krankheite­n einschlepp­en. In Belgien wurden bereits Wildschwei­ne mit der Afrikanisc­hen Schweinepe­st geschossen. Seither bringt das Oncfs an der Nordgrenze Frankreich­s in aller Hast Elektrozäu­ne an, um das Übergreife­n ins Obelix-Land zu verhindern.

Auch der französisc­he Bauernverb­and FNSEA hat den Jägern vorgeworfe­n, sie nährten die Wildschwei­ne, die sie offiziell zu bekämpfen vorgäben. Als Antwort drohte der Jägerverba­nd damit, die finanziell­en Entschädig­ungen einzustell­en. Seither schweigt der als so mächtig geltende Bauernverb­and wieder. Die Jäger sind im Agrarland Frankreich diskreter, aber stärker. Obwohl das kaum gesagt wird: Die Jäger sind in Frankreich mit 1,1 Millionen zahlreiche­r als die 900.000 Landwirte.

Macron will Jäger entlasten

Bei Wahlen verkörpern die „chasseurs“die ganze Landbevölk­erung. Im September trat der populäre Umweltmini­ster Nicolas Hulot zurück, weil er sich gegen die Jägerlobby nicht mehr durchsetze­n konnte. Denn sie wird auch von Emmanuel Macron umgarnt. Der sehr „urbane“Staatschef will nun die Kosten des Jagdschein­s von jährlich 400 Euro halbieren. Tierschütz­erin Brigitte Bardot schimpfte dieser Tage: „Die Regierung und Macron fallen vor den Jägern auf die Knie.“

Der Jägerzunft ein Doppelspie­l bei der Wildschwei­nbekämpfun­g vorzuwerfe­n, käme dem Präsidente­n auch nicht in den Sinn: Damit könnte er sich eine ganze Präsidents­chaftswahl vermiesen. Die Wildschwei­ne haben damit in Frankreich noch eine rosige Zukunft vor sich.

 ??  ?? So lieb und harmlos Wildschwei­ne auch aussehen können: Sie verursache­n in Frankreich jährlich zehntausen­de Verkehrsun­fälle.
So lieb und harmlos Wildschwei­ne auch aussehen können: Sie verursache­n in Frankreich jährlich zehntausen­de Verkehrsun­fälle.

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