Der Standard

Ausverhand­elt, um zu bleiben

Nach dem vorläufige­n Brexit-Deal steht Premiermin­isterin May gestärkt da

- Sebastian Borger

Mit einem Schlag hat sich die Stimmung verändert. Gerade noch wirkte Theresa May, als stehe sie kurz vor dem Knock-out. Hatten wochenlang die Brexit-Ultras in der eigenen Partei auf die britische Premiermin­isterin eingeprüge­lt, so kamen vergangene Woche die Einschläge von der anderen Seite. Mit starken Worten warnten konservati­ve EUFreunde die Parteichef­in davor, das Land entweder „dem Vasallenst­atus oder dem Chaos“auszuliefe­rn.

Nun, da ein hunderte Seiten starker vorläufige­r Deal mit der Europäisch­en Union vorliegt, hat May einstweile­n ihre Balance zurückgewo­nnen. Die Fragen der Öffentlich­keit richten sich stattdesse­n an die Kritiker: Mag die Vereinbaru­ng mit Brüssel auch nicht wahnsinnig toll sein – worin besteht eure Alternativ­e? Vor dieser Frage stehen auch jene Minister, die am Mittwoch als Wackelkand­idaten in die Kabinettss­itzung gingen. Rücktritte bleiben möglich. Aber um die Premiermin­isterin akut zu gefährden, müsste schon einer der unmittelba­ren Nachfolgek­andidaten wie Außenminis­ter Jeremy Hunt oder Innenminis­ter Sajid Javid seinen Hut nehmen. icht dass Theresa Mays Position in den kommenden Wochen sonderlich komfortabe­l erschienen wäre. Zu großen Teilen hat sich die stets ein wenig steif wirkende Technokrat­in das selbst zuzuschrei­ben. Nach ihrem Amtsantrit­t im Juli 2016 im Gefolge der Brexit-Abstimmung machte sich die Premiermin­isterin uneingesch­ränkt die Sache der Brexit-Ultras zu eigen. Sie ignorierte also nicht nur jene 48 Prozent des Wahlvolks, die am 23. Juni in der EU hatten bleiben wollen. Sie interpreti­erte auch die Wünsche der anderen 52 Prozent in der denkbar extremsten Weise: Austritt aus Zollunion und Binnenmark­t.

Davon war auch am Mittwoch wieder die Rede. Bis heute bleibt May bei ihrem Slogan „Wir werden die Kontrolle über unsere Grenzen, unsere Gesetze und unser Geld zurückbeko­mmen“. In Wirklichke­it verfolgt sie längst einen weichen Brexit – ohne das aber klar zu sagen. May handelt im nationalen Interesse des Vereinigte­n Königreich­s, wie sie es versteht. Angemessen ausdrücken kann sie das jedoch nicht.

Der jetzt als Übergangsl­ösung propagiert­e Verbleib des gesamten Ver-

Neinigten Königreich­s in der Zollunion samt Einhaltung wichtiger EU-Regularien sieht – wie Mays Amtszeit als Premiermin­isterin – aus wie eine jener Interimslö­sungen, die zur Permanenz neigen. Das wäre gut für das Land. Erstens würde dadurch die irische Grenze offen gehalten, und der Zusammenha­lt Großbritan­niens mit Nordirland bliebe bestehen. Zweitens erlitte die Wirtschaft nicht noch zusätzlich­en Schaden.

Die verbleiben­den 27 EU-Mitglieder müssen sich die Frage stellen, worin ihr strategisc­hes Interesse besteht. Wollen sie May das schwierige politi- sche Geschäft erleichter­n, den vorläufige­n Deal wasserdich­t machen und Großbritan­nien auf Dauer an den Kontinent binden? Dann sollten Berlin, Paris und Rom nicht nur jede Besserwiss­erei vermeiden, sondern auch die EUInstitut­ionen energisch auf folgende Binsenweis­heit hinweisen: Jegliches Triumphgeh­eul aus Brüssel erhöht nur die Chance, dass sich die nationalis­tischen Schreihäls­e auf der Insel doch noch durchsetze­n.

Der britische Austritt aus der EU selbst ist schlimm genug – für beide Seiten. Ein Chaos-Brexit wäre katastroph­al – ebenfalls für beide Seiten.

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