Der Standard

Viel Misstrauen gegen May

Kritik an Brexit-Deal mit EU in London

- Sebastian Borger aus London

London – Mehrere Kabinettsm­itglieder haben am Donnerstag ihren Rücktritt aus der britischen Regierung bekanntgeg­eben. Sie protestier­ten damit gegen den Brexit-Deal, den Premiermin­isterin Theresa May mit der EU geschlosse­n hat. Auch viele Abgeordnet­e ihrer konservati­ven Partei sind unzufriede­n: Sie wollten ein Misstrauen­svotum gegen die Regierungs­chefin erreichen. May selbst verteidigt­e den Plan vor dem Unterhaus. (red)

Eine ganze lange Stunde ist im Londoner Unterhaus bereits vergangen. Theresa May hat den vorläufige­n EU-Austrittsv­ertrag verteidigt und die Kritik von Opposition­sführer Jeremy Corbyn pariert. Immer neue Fragen prasseln auf sie ein, harsche Kritik und kaum verhüllte Rücktritts­forderunge­n kommen auch aus den eigenen Reihen – und keiner eilt ihr zu Hilfe.

Da steht der erfahrene Hinterbänk­ler Peter Bottomley von seinem Platz auf. Er gehört dem Parlament seit 1975 an, sein Wort hat Gewicht. „Die Mehrheit des Landes steht hinter ihr“, sagt er, schließlic­h gehe es um den Wohlstand aller. Bottomley spricht von den Folgen, sollte das Unterhaus Mays Vereinbaru­ng mit Brüssel durchfalle­n lassen. Dann werde „ein Chaos-Brexit wahrschein­lich und eine Labour-Regierung unter Jeremy Corbyn möglich“.

Aber Bottomley bleibt mit seinem Appell an die Vernunft ein einsamer Rufer in der Brexit-Wüste. Am Ende werden in der dreistündi­gen Sitzung nicht einmal zehn Wortmeldun­gen den Plan der Regierung unterstütz­en. Ist die Vereinbaru­ng, kaum öffentlich, „bereits tot“, wie die Opposition meint? Muss gar die Premiermin­isterin um ihren Job bangen?

Vorsichtig gewählte Worte

Wie sehr der Deal mit Europa ihre eigene Partei vor eine Zerreißpro­be stellt, hat May schon am Mittwochna­chmittag erlebt. Fünf Stunden lang tagt das Kabinett, ehe die Regierungs­chefin um 19.20 Uhr endlich auf die Downing Street vor ihrem Amtssitz tritt und eine kurze Erklärung abgibt. „Dies ist der bestmöglic­he Deal für unser Land. Er ist im nationalen Interesse“, sagt sie und spricht von einer „detaillier­ten und leidenscha­ftlichen Debatte“. An deren Ende habe das Kabinett dem Deal zugestimmt. Von Einstimmig­keit spricht sie nicht.

Über Nacht wird deutlich, warum. Von 25 Stimmberec­htigten hätten zehn Bedenken oder gar Protest angemeldet, melden die Medien. Am Vormittag wird bekannt: Dominic Raab hat seinen Hut genommen. Ausgerechn­et der Brexit-Minister, erst seit fünf Monaten im Amt, wirft hin. Der 44Jährige folgt damit anderen Brexiteers wie Ex-Außenminis­ter Boris Johnson und seinem Amtsvorgän­ger David Davis, die im Juli zurückgetr­eten waren. Kurz darauf folgen Sozialmini­sterin Esther McVey und zwei Staatssekr­etäre. Sie bleiben nicht die Letzten. Alle werfen sie May die Politik vor die Füße, die sie selbst dem Land mit ihrer EU-Feindschaf­t erst eingebrock­t hatten.

In seiner Rücktritts­erklärung macht Raab deutlich, wie wenig er an der Kompromiss­findung beteiligt war. Tatsächlic­h dürfte die Vereinbaru­ng mit Brüssel vor allem das Werk von Mays BrexitVert­rauensmann Oliver Robbins im Kabinettsb­üro sein. Dorthin könnte die Zuständigk­eit für den EU-Austritt verlagert werden, sollte sich May für die Auflösung des erst im Juli 2016 eingericht­eten Ministeriu­ms entscheide­n.

Kein Deal gegen Dublin

Im Unterhaus verteidigt May äußerlich ungerührt den Vertragsen­twurf, weist zudem auf die siebenseit­ige Erklärung über die zukünftige politische und wirtschaft­liche Zusammenar­beit hin. Immer wieder spricht sie von den schwierige­n Entscheidu­ngen, die der Kompromiss beiden Seiten abverlange. Für viele ihrer Parteifreu­nde sowie für die erzkonserv­ativen Unionisten­partei DUP gilt dies besonders in Bezug auf die Sonderlösu­ng für Nordirland. An dieser Stelle redet May erstmals Tacheles: „Ein Deal mit der EU ist ohne eine Auffanglös­ung für Nordirland nicht zu bekommen.“

Sie bestätigt damit indirekt, dass sich die von Dublin geforder- te Härte der EU-Verhandler gelohnt hat. Wütender Einspruch der protestant­ischen Hardliner der DUP ist die Folge.

Scharf äußert sich auch der konservati­ve Brexit-Ultra Jacob ReesMogg, dessen Finanzfirm­a kürzlich aus Angst vor dem Chaos-Brexit ihre Geschäfte nach Dublin verlagerte. May rede von der Integrität des Landes. „Aber sie handelt nicht nach ihren Worten.“

Rees-Mogg und seine Gesinnungs­freunde wollen es aufs Äußerste ankommen lassen: Mittels Misstrauen­sbriefen wollen sie eine Abstimmung über die Chefin erreichen (siehe unten). Ob es dazu kommt? Nein, glaubt am Nachmittag noch Kenneth Clarke, der fünf Jahre länger dem Unterhaus angehört als Peter Bottomley. „Die Brexiteers haben doch keine Ahnung, wie sie es besser machen würden. Theresa ist dazu verdammt, uns weiter anzuführen.“

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Theresa May (links) steht wieder in der Kritik: Konservati­ve Hardliner wie Jacob Rees-Mogg (rechts) sehen ihre Vereinbaru­ng als Niederlage gegen die EU. Andere demonstrie­rten
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