Amazon und das Geschäft mit dem Standort
Mehr als 200 US- Städte lieferten sich einen erbitterten Standortwettstreit um den Zweitsitz von Amazon. Den Zuschlag bekamen New York und Washington – zu einem Preis, der für viele Fragen und Kritik sorgt.
Will Jeff Bezos damit werben, wie Amazon eine Stadt zum Guten verändert, zitiert er den Fall South Lake Union. Vor gut zehn Jahren noch reihten sich in dem Viertel, unmittelbar angrenzend an die Downtown von Seattle, triste Wohnhäuser an Autowerkstätten und Lagerhallen. Heute gibt es dort nette Restaurants und Plätze mit urbanem Flair, es gibt gläserne Bürogebäude mit klingenden Namen, Gatsby, Houdini, Invictus. Und es gibt die „The Spheres“, ein Ensemble von Glaskuppeln, das an ein futuristisches Gewächshaus nicht nur erinnert, sondern tatsächlich eines ist.
Rund 40.000 Beschäftigte arbeiten inzwischen am Hauptsitz von Amazon in Seattle, wo Bezos den Alleslieferanten einst gründete. Dass die Firma ein ödes Stadtviertel in ein pulsierendes verwandelte, kann niemand bestreiten. Nur lässt sich am Pazifik auch die Kehrseite der Medaille studieren.
Die 300.000 Menschen, die in den vergangenen fünf Jahren wegen des Hightechbooms nach Seattle und Umgebung zogen, treffen auf eine Infrastruktur, die dem Ansturm nicht gewachsen ist.
Zu wenig Infrastruktur
Als Folge mangelnden Wohnraums sind die Mieten rasant gestiegen, die Hauspreise haben sich fast verdoppelt. Nach San Francisco und San Jose, der Silicon-ValleyDrehscheibe, ist Seattle mittlerweile die US-Metropole mit den höchsten Lebenshaltungskosten. Wer bei Amazon 100.000 Dollar pro Jahr verdient, das ist der Durchschnittslohn, kann sich ein Zwei-ZimmerApartment für zweitausend Dollar Monatsmiete aufwärts wohl leisten. Viele Alteingesessene können es nicht, sodass sie entweder in billigere Gegenden ziehen oder schlimmstenfalls im Zelt unter einer Brücke landen. Rund elftausend Obdachlose leben mittlerweile in Seattle. Als die Stadtverwaltung größere Unternehmen mit einer Sondersteuer zur Kasse bitten wollte, um mehr Geld zur Linderung der Wohnungskrise ausgeben zu können, ging Bezos auf die Barrikaden. Solange der Plan zur Debatte stehe, werde Amazon die Arbeiten an einem Wolkenkratzer in der Innenstadt einstellen, ließ er ausrichten. Im Juni war die Blaupause vom Tisch.
Das Beispiel Seattles wirft die Frage auf, ob New York und Washington nun auf der Siegerseite stehen, weil sie einen harten Standortwettlauf gewonnen haben. Vorausgegangen war ein Bieterwettstreit, bei dem 238 Städte um die Gunst des Konzerns buhlten, um dessen zweiten Hauptsitz in Nordamerika und damit 50.000 in Aussicht gestellte Arbeitsplätze an Land zu ziehen. Im Spätsommer entschied Bezos, das zweite Hauptquartier auf zwei Standorte aufzuteilen, mit je 25.000 Jobs.
Schon damals sprachen Kritiker von einem raffinierten Täuschungsmanöver, weil Bezos mit dem einen großen Hauptpreis gelockt hatte, der sich nun nur als halber erwies. Jetzt, da die Würfel gefallen sind, nimmt der Diskurs wirklich kontroverse Züge an.
Nachdem die Sache entschieden war, wurde publik, welche finanziellen Anreize der Bundesstaat und die Stadt New York in die Waagschale geworfen hatten.
Milliarden für Ansiedelung
Insgesamt fördern sie die Ansiedelung mit 2,8 Milliarden Dollar an Subventionen und Steuererleichterungen. Ein Deal auf Kosten des Steuerzahlers, der den Anwohnern praktisch nichts bringe, tadelt Michael Gianaris, ein Lokalpolitiker, der Long Island City im Senat von New York vertritt. Er warnt vor dem Seattle-Effekt.
Bill de Blasio, der Bürgermeister New Yorks, präsentiert wiederum optimistische Schätzungen. Für jeden Dollar, mit dem man Amazon subventioniere, fasst er zusammen, bekomme man neun Dollar zurück, durch Investitionen, durch Wachstum, durch zusätzliche Arbeitsplätze weit über den Amazon-Kern hinaus.
Allerdings machte das Unternehmen nach vollzogener Kandidatenkür deutlich, dass ein Auswahlkriterium weit vor allen anderen rangierte: die Verfügbarkeit technikaffiner College-Absolventen, allen voran Ingenieure und Programmierer. In so großer Zahl finde man sie nur in großen Ballungsräumen, erläuterte ein Firmensprecher.
In Washington und New York lässt das die Kritiker fragen: Wenn beide Städte anzubieten haben, was Amazon braucht, wieso wirft man Jeff Bezos dann noch so viel Geld hinterher?