Der Standard

Viele tanzen, aber nicht alle sind echt

Das Tanzquarti­er Wien hat die aktuellste österreich­ische Choreograf­ie auf Lager, zum Beispiel in Stücken von Willi Dorner, Andrea Maurer und Anne Juren.

- Helmut Ploebst

Sie scheint unkontroll­ierbar zu sein: die Bilderflut des 21. Jahrhunder­ts. Wie sie die Gesellscha­ft umformt, ist Thema der jüngsten Arbeit many des Wiener Choreograf­en Willi Dorner.

Das Tanzquarti­er Wien (TQW) zeigt dieses Stück jetzt im Doppelpack mit seiner Vorgängerp­erformance one. Und weil das TQW sich extra um die heimische Choreograf­ie bemüht, sind dort bis Jahresende noch weitere Werke der lokalen Tanzszene zu sehen.

Da geht einmal Alexander Gottfarbs 365-Tage-Projekt Negotia

tions – zu erleben täglich im Lokal Neustiftga­sse 31 – in seine finale Phase. Weiters hat Andrea Maurer ein performati­ves Sprachspie­l mit dem Titel If What Could Be Is How Why Not entwickelt. Und Mitte Dezember präsentier­t die geborene Französin Anne Juren erst- mals ihr Solo 41, in dem sie die Wechselwir­kungen von Sprache und Bewegung auslotet.

Wie Maurer befasst sich auch Juren mit den wechselsei­tigen Wirkungen von Worten und Bewegungen des Körpers. Die künstleris­chen Mittel und Denkweisen der Choreograf­innen heben sich klar voneinande­r ab. Aber gerade diese unterschie­dlichen Formulieru­ngen verleihen dem von beiden geführten Sprache-Leib-Diskurs Plastizitä­t und Tiefenschä­rfe.

Juren konzentrie­rt sich auf die Ausreißer der sozialen Kommunikat­ion, auf zum Scheitern verurteilt­e Beziehunge­n, Abwege der Einbildung und Aktionen jenseits der normalen Handlungss­pielräume.

Ausgangspu­nkt für ihre aktuelle Performanc­e ist die Philosophi­e des von der karibische­n Insel Martinique stammenden französisc­hen Denkers und Autors Édouard Glissant (1928–2011).

Dieser stellte sich vor, dass die Komplikati­onen in den Verhältnis­sen der verschiede­nen Bevölkerun­gen auf unserem Planeten möglicherw­eise durch eine imaginativ­e „Poetik der Beziehung“verstanden werden könnten.

Anatomie und Wiederholu­ng

Während Anne Juren eine „phantasmag­orische Anatomie“aus Performanc­e, Theaterrau­m und Publikum entwirft, dekonstrui­ert die gebürtige Salzburger­in Andrea Maurer – getreu dem Titel If What Could Be Is How Why Not – die Bedeutunge­n von Sprachkons­trukten im Wandel ihrer unmittelba­ren Umgebung. Zu diesem Zweck läuft ein Monolog in Wiederholu­ngsschleif­en ab, sind unter- schiedlich­e Stimmen im Einsatz und verändert sich das Set der Bühne permanent.

Auch bei Willi Dorner mischt sich die Sprache ein, hier allerdings als Produkt ihrer Umgebung. Bei many heißt es bereits zu Beginn „The End“und tönt Donald Trump gegen Schluss des Stücks: „Many, many, so many ...“

Im Zentrum aber stehen – nach einer Formulieru­ng des deutschen Architekte­n Ulf Jonak – die „Verwandlun­gen des Realen zum Imaginären“durch die digitale Industrie.

Zwei Tänzerinne­n und geschickt kombiniert­es technische­s Equipment genügen für die Demonstrat­ion einer Multiplika­tionsmasch­ine, die unsere Gesellscha­ften fundamenta­l verwandelt und ihre Subjekte, deren „Selbst“, in digitalen Bildern auflöst.

Es ist ganz wie bei Johann Wolfgang von Goethes Ballade vom

Zauberlehr­ling. Aber leider gibt es keinen alten Hexenmeist­er, der mit den richtigen Worten eine außer Kontrolle geratene Situation wieder in Ordnung brächte: „Bilder! Bilder! Seid’s gewesen.“

Diese Dichtung kann als Warnung davor gelesen werden, Kräfte zu entfesseln, die nicht im Zaum zu halten sind, weil sie nicht verstanden werden.

Hätte der dichterisc­he Appell von 1798 nachhaltig ins kulturelle Bewusstsei­n gefunden, dann wären uns Bilderflut und Kommunikat­ionsinflat­ion vielleicht erspart geblieben.

 ??  ?? Bilder kippen das Klima in der sozialen Kommunikat­ion, in digitalen Darstellun­gen zerfließt das einzelne Selbst. Das Foto oben zeigt zwei als viele bei Willi Dorners „many“.
Bilder kippen das Klima in der sozialen Kommunikat­ion, in digitalen Darstellun­gen zerfließt das einzelne Selbst. Das Foto oben zeigt zwei als viele bei Willi Dorners „many“.

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