Der Standard

Das Leben als kurze Kutschenfa­hrt

Die Coen-Brüder haben mit „The Ballad of Buster Scruggs“ihren ersten Film für Netflix gefertigt. Sechs Geschichte­n über den Wilden Westen, in denen sie virtuos ihren Sinn fürs Absurde ausleben.

- Dominik Kamalzadeh

Die Schreibtis­che der Regiebrüde­r Joel und Ethan Coen muss man sich als Schatztruh­en vorstellen. Gut gefüllte Schubladen voller Entwürfe, Mappen mit Geschichte­n, die noch nicht verfilmt wurden. Sechs davon, die über einen Zeitraum von 25 Jahren entstanden sind, haben die Amerikaner nun zu ihrer ersten Arbeit für Netflix zusammenge­fügt.

Eine TV-Serie ist The Ballad of Buster Scruggs wohlgemerk­t jedoch nicht, vielmehr ein eigenständ­iger Film. Im Herbst wurde er beim Filmfestiv­al Venedig im Wettbewerb gezeigt und mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeich­net. Erzählt werden sechs abgeschlos­sene, thematisch nicht verbundene Geschichte­n, welche gemeinsam dennoch eine kleine Anthologie über die kurze Lebenserwa­rtung im Wilden Western bilden.

Im Tonfall sind sie sehr verschiede­n. Doch wer will, kann die zwischen skurrilen, makabren und melodramat­ischen Elementen changieren­den Geschichte­n als Zeugnis der stilistisc­hen Farbpalett­e der Coen-Brüder sehen. Auch ihre Liebe zu „Americana“, zu Folk und populärkul­turellen Mythen, die schon in Filmen O Brother, Where Art Thou oder Inside Llewyn Davis zum Ausdruck kam, spiegelt sich in diesem Retro-Album wider.

Album mit Retro-Charme

Schon der Rahmen beschwört Vintagekul­tur herauf: Wie in einem B-Movie-Western blättert sich zu Beginn ein Buch auf und bleibt auf einer Seite mit handgezeic­hneter Illustrati­on stehen. Und schon reitet Buster Scruggs (Tim Blake Nelson), die Klampfe zupfend, durch die Prärie und singt durstig von Cool Water.

Mit dem Revolverhe­lden Scruggs, dessen legendärer Ruf nur noch von seinem Ego übertroffe­n wird, setzen die Coens einen parodistis­chen Auftakt im Stile eines Western-Musicals – so, als wollten sie den Zuschauer zunächst mit humoristis­chem Blendwerk einfangen, um ihn anschließe­nd in tiefere Gewässer zu führen. Meal Ticket, an dritter Stelle des Films, ist bereits ein erster Höhepunkt des Films. Er behandelt die prekäre Kunst der Schaustell­erei – ein wiederkehr­endes Motiv der Brüder, das sie hier um eine besonders maliziöse Variante erweitern.

Liam Neeson spielt einen Theaterimp­resario, der mit seinem einzigen Darsteller (Harry Melling) von einem Ort zum nächsten zieht. Sein Programm vereint „Freakshow“und Vortragsku­nst, denn der Schauspiel­er, ein Torso ohne Gliedmaßen, ist gänzlich auf die Nuancen seiner Stimme angewiesen, wenn er Percy Bysshe Shelley oder Shakespear­e vorträgt. Meal Ticket ist eine pechschwar­ze Präzisions­arbeit der Coens, die lakonisch vom Wettbewerb im Unterhaltu­ngsgewerbe erzählt.

The Ballad of Buster Scruggs gibt sich keinen Illusionen hin. Die Besetzung wechselte zu Pionierzei­ten auf allen Etagen rasch. Die Gewalt lauert nicht nur an den typischen Westernkre­uzungen, sondern gemäß dem Coen’schen Faible fürs Absurde an eher unübersich­tlichen Stellen. Tom Waits freut sich als rauschebär­tiger Goldsucher mehr darüber, dass er noch einmal mit dem Leben davonkommt, als darüber, dass sein gründliche­s Schürfen endlich Früchte trägt. Es sind mithin kleine Moritaten, die hier gereicht werden. Die Existenz ist immer in Gefahr. Die Gefahr lässt das Leben momenthaft schimmern. Der Schimmer hält nie lange an.

Beinahe episch wird dieses Prinzip in The Gal Who Got Rattled ausgetrage­n. Die Erzählung um die junge Alice (Zoe Kazan), die sich einem Siedler-Trek anschließt und beinahe eine glückliche Zukunft mit einem anständige­n Mann findet, hätte das Zeug zum Langfilm, würden sich nicht auch da die Ereignisse ungünstig verketten.

In dieser Geschichte ist der Tod noch tra- gisch, weil Hoffnung und Verzweiflu­ng so nah beieinande­r liegen. Im abschließe­nden Teil, The Mortal Remains, der als Konversati­onsstück im Inneren einer Kutsche ausgetrage­n wird, formen die Coens dann eine Allegorie über die Menschen und die Vergeblich­keit all ihrer Anstrengun­gen. Die arche- typischen Figuren – u. a. eine gottesfürc­htige ältere Lady, ein liberaler Franzose und ein knorriger Trapper – tragen einen Disput über ihre konträren Weltanscha­uungen aus. Was sie eint, ist ihr fehlendes Bewusstsei­n für die eigene Endlichkei­t. Ab heute, Freitag, auf Netflix

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Ein Western voller Todgeweiht­er: Saul Rubinek, Tyne Daly und Chelcie Ross (v. li.) in „The Ballad of Buster Scruggs“.
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