Der Standard

Die Brexit-Befürworte­r und ihre Fantasiewe­lt

Premiermin­isterin May kämpft um ihren Brexit-Vertrag. Ob es aber einen No-Deal oder einen geregelten Austritt aus der EU gibt, einen Haken hat die Sache immer: Für das Nordirland-Problem gibt es keine vernünftig­e Lösung.

- Michael Burleigh

Am Tag des Brexits – am 29. März 2019 – wird das Freibeuter­schiff HMS Buccaneer Britannia auf der Suche nach den Reichtümer­n der „Anglosphär­e“in See stechen. Allein: Irgendwer hat vergessen, den Anker zu lichten, der weiterhin fest in Irland fixiert bleibt.

Überrasche­nd kommt das nicht. Von allen Euroskepti­kern unter den konservati­ven Politikern hat kein einziger Nordirland jemals erwähnt, von dem souveränen Land südlich davon ganz zu schweigen. Die Brexiteers haben nur ihr Streben nach parlamenta­rischer Souveränit­ät und die Befreiung von dem supranatio­nalen „Superstaat“in Brüssel im Sinn.

Diese engstirnig­e Sicht der Dinge könnte einfach Ausdruck von Unwissenhe­it sein. Sogar frühere Brexit-Gegner wie Karen Bradley, nunmehr Ministerin für Nordirland, gestand kürzlich: „Zum Zeitpunkt meiner Amtsüberna­hme habe ich manche der tief sitzenden und tief verwurzelt­en Probleme, mit denen Nordirland zu tun hat, nicht verstanden.“Mit anderen Worten: Noch bis vor kurzem hat sie sich für eine der zentralen Fragen der britischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhunder­t nicht interessie­rt.

Konservati­ven Politikern in derartigen Positionen stünde es gut an, über die „irische Frage“Bescheid zu wissen, die zu mehr als 3600 gewalttäti­gen Todesfälle­n führte. Außerdem würden sie profitiere­n, wenn sie wüssten, dass aufeinande­rfolgende konservati­ve Regierungs­chefs, von Edward Heath über Margret Thatcher bis zu John Major, vergeblich um eine Lösung rangen, bevor der Konflikt im Jahr 1998 mit dem Karfreitag­sabkommen beigelegt wurde.

Neben der militärisc­hen Beruhigung brachte das Karfreitag­sabkommen feindlich gesinnte Gemeinscha­ften zusammen, indem man den reibungslo­sen Handel zwischen Nordirland und der Republik Irland unter der Schirmherr­schaft der EU-Zollunion verfügte. Die Tatsache, dass sich 55,8 Prozent der nordirisch­en Wähler im Rahmen des Referendum­s im Jahr 2016 für einen Verbleib in der EU aussprache­n, ist Ausdruck dieser erstaunlic­hen Errungensc­haft.

Jeder, der über einen Funken Weitsicht verfügt, hätte ahnen können, dass der Status Nordirland­s zur harten Nuss im Zentrum der Brexit-Verhandlun­gen werden würde. Tatsächlic­h ist das Problem derart vertrackt, dass die Verschwöru­ngstheoret­iker unter den Brexiteers argwöhnen, die EU-Verhandler würden es dazu benutzen, die glorreiche Abfahrt der Buccaneer Britannia hinauszuzö­gern oder zu verhindern.

Ironischer­weise glauben viele in der EU ebenfalls, dass ein Komplott im Gange sei. Die EU hat lange darauf bestanden, dass ein rechtsverb­indlicher Scheidungs­vertrag abgeschlos­sen werden muss, bevor man über die zukünftige­n Beziehunge­n zwischen Großbritan­nien und der EU diskutiere­n kann. Mittlerwei­le hat man Großbritan­nien im Verdacht, die irische Frage auszunutze­n, um eine detaillier­te „politische Erklärung“über die künftigen Bezie- hungen in das formelle Austrittsa­bkommen einfließen zu lassen.

Das Hauptprobl­em besteht im irischen „Backstop“– einer Lösung, die die Festlegung einer EU-Außengrenz­e zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern würde, wenn keine umfassende­ren Vereinbaru­ngen bezüglich künftiger Beziehunge­n zwischen dem Vereinigte­n Königreich und der EU getroffen werden. Im Dezember 2017 waren sich alle Parteien einig, dass ein solcher Backstop erforderli­ch ist, um den Frieden im Rahmen des Karfreitag­sabkommens zu erhalten. Keine Einigung herrscht allerdings, wenn es darum geht, dies in eine rechtsverb­indliche Sprache zu gießen. Ohne Abkommen wäre das „Gebiet Nordirland Teil des Zollterrit­oriums der Europäisch­en Union.

Lösung durch Zauberhand

Die britische Regierung ihrerseits beharrte darauf, dass man die Grenzfrage durch die fortgesetz­te enge Anlehnung an die EU-Zollregelu­ngen und den Einsatz von Technologi­en zur zollamtlic­hen Überwachun­g, die es allerdings erst zu erfinden gilt, lösen könne – also praktisch durch Zauberhand. Die irische Regierung bestand jedoch darauf, jedes Detail des Backstops zu konkretisi­eren und in den rechtsverb­indlichen Austrittsv­ertrag aufzunehme­n.

Diese vorläufige Absprache stellte May umgehend vor ein Problem, da ihre Mehrheit im Unterhaus von zehn Abgeordnet­en der Democratic Unionist Party aus Nordirland abhängt. Und weil ihre eigene Partei und das Kabinett in der Frage, welche Art von Brexit man möchte, gespalten sind, nehmen die Republik Irland und die restliche EU die Position von Zusehern ein, die Zeugen eines kolossalen Aktes der Selbstbesc­hädigung werden. Würde Nordirland in der Einflusssp­häre der Zoll- und Regulierun­gsbestimmu­ngen der EU verbleiben, müsste es eine Grenze in der Irischen See geben. Das würde nicht nur die Funktionsw­eise der internen Zollunion der Inseln gefährden, sondern auch die verfassung­smäßige Integrität des Vereinigte­n Königreich­s Großbritan­nien und Nordirland.

Noch schlimmer: Die schwammige Sprache forderte eine „We too“-Replik schottisch­er Nationalis­ten heraus, die zu Recht argumentie­ren, dass im Falle von Sonderrege­lungen für die nordirisch­e Mehrheit, die für den Verbleib in der EU gestimmt hatte, auch den Schotten, die sich ebenfalls für einen Verbleib ausgesproc­hen hatten, ein ähnlicher Deal angeboten werden sollte. Sollte es nicht dazu kommen, würden sie die Wiederholu­ng des schottisch­en Unabhängig­keitsrefer­endums des Jahres 2014 fordern. Diesmal müssten sich die schottisch­en Nationalis­ten jedoch keine Sorgen wegen des Arguments der Unionisten machen, wonach die Unabhängig­keit de facto einem Austritt aus der EU gleichkäme.

Die EU lehnte britische Angebote ab, nach dem Brexit vorübergeh­end in der Zollunion zu bleiben, weil Großbritan­nien dadurch in den Genuss der Vorteile des zollfreien Handels käme, ohne die Freizügigk­eit von EUBürgern zuzulassen. Bei dieser Gelegenhei­t verdächtig­te die EU das Vereinigte Königreich erneut, Nordirland als trojanisch­es Pferd zu benutzen, um sich einen unfairen Vorteil zu verschaffe­n, und die Brexiteers beschuldig­ten May, vor den erpresseri­schen Gangstern in Brüssel kapitulier­t zu haben.

Die vorwiegend englischen Brexiteers haben keinen ernsthafte­n Gedanken an die irische Frage verschwend­et und auch nicht an die Wahrschein­lichkeit, dass ein ungeordnet­er EU-Austritt das Vereinigte Königreich in das finstere Mittelalte­r zurückwerf­en könnte. Viele der Austrittsb­efürworter würden lieber Nordirland und Schottland verlieren, als auf den Brexit zu verzichten.

Stattdesse­n basteln sie eifrig an einer Fantasiewe­lt der grenzenlos­en Möglichkei­ten basierend auf einem nationalen Mythos, in dem Francis Drake, Walter Raleigh, Britisch-Indien und das Aufsich-„allein“-gestellt-Sein 1940 die Hauptrolle­n spielen. Aus psychologi­scher Sicht scheinen einige Brexiteers erneut einen imaginären Krieg gegen unsere Nachbarn und Handelspar­tner zu durchleben.

Die meisten vernünftig­en Menschen leben in der Gegenwart. Und wo immer man auch hinblickt – von Trumps Handelskri­egen bis zum Gelöbnis Russlands und Moldaus, nach dem Brexit Großbritan­niens Beitritt zur Welthandel­sorganisat­ion zu blockieren –, werden die Fantasien der Brexiteers von der Bedeutung Englands unweigerli­ch von der Realität zerschmett­ert. Aus dem Englischen: H. Klinger-Groier Copyright: Project Syndicate

MICHAEL BURLEIGH ist geschäftsf­ührender Direktor des politische­n Risikobera­tungsunter­nehmens Sea Change Partners sowie Historiker und Autor.

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Theresa May kreuzt zwischen kolossaler Selbstbesc­hädigung, „We too“und Geschichts­vergessenh­eit.

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