Der Standard

Brexit bleibt eine Zitterpart­ie

Abkommen wäre grundvernü­nftig, löst aber das Irland-Problem nicht

- Thomas Mayer

Man wird bei der Beurteilun­g der Umsetzungs­chancen des Brexit-Vertrags wohl bis zur letzten Minute vor dem EU-Austritt Großbritan­niens warten müssen. Derzeit scheint in London alles möglich. Auf keine Entscheidu­ng dort ist wirklich Verlass. Alles ist nur vorläufig.

Nur wenige Stunden nach der von Premiermin­isterin Theresa May verkündete­n einhellige­n Bestätigun­g des Abkommens in ihrem Kabinett warf Dominic Raab seinen Job als BrexitMini­ster zurück – aus Protest. Dieser dramatisch­e Schritt führt den EUPartnern die ganze Zerrissenh­eit der Tories vor Augen – sie geht bis an den Rand der Persönlich­keitsspalt­ung.

Man muss sich das vorstellen: Seit Sommer verhandelt­e May persönlich den Brexit. Aber der härteste Gegner waren offenbar nicht ihre EU-Partner auf der anderen Seite des Tisches – als „Feind im eigenen Bett“erweist sich ausgerechn­et der von ihr in der Not ernannte Raab, weil auch Vorgänger David Davis kurzfristi­g alles hinschmiss.

Tag eins nach der Brüsseler Einigung legt also zwei Schlüsse nahe. Erstens: Die Chancen, dass dieser Brexit-Vertrag die Abstimmung im britischen Parlament Anfang Dezember überlebt, sind eher kleiner geworden. Das „Endspiel“bei den Tories beginnt erst. Und warum sollte Labour – die Opposition, deren Chef Jeremy Corbyn beim Brexit ambivalent ist – May den Gefallen tun, ihr den Kopf zu retten? Wenn der Brexit-Vertrag im Unterhaus scheiterte, ginge es nicht einfach zurück an den Start. Dann müsse sich die EU darauf einstellen, dass die ToryHardli­ner bis März einen No-Deal mit ungeordnet­em EU-Austritt realisiert­en – verbunden mit viel Schaden auf beiden Seiten. May wäre erledigt.

Eine Variante: May flüchtet in Neuwahlen. Es kommt aber zu einem Regierungs­wechsel. Ein neuerliche­s Referendum wäre dann nicht ausgeschlo­ssen. Die EU-27 wären kurz vor den EU-Wahlen in einer heiklen Lage, den Brexit vielleicht verschiebe­n zu müssen, was per einstimmig­en Beschluss möglich wäre.

Neben diesem Negativsze­nario gibt es – zweitens – den anderen, positiven Ausgang: Es gelingt May, den von ihr persönlich durchgedrü­ckten Vertrag als „nationales Anliegen“durch das Unterhaus zu bringen. Dann hätte sie ein Ergebnis erreicht, das sie (die als Innenminis­terin 2016 gegen den Brexit war) seit dem Chequers-Plan, der zum Rücktritt Boris Johnsons führte, selbst immer wollte. Ähnliches hatten auch die Regierungs­chefs der EU27 Barnier als Verhandlun­gsziel vorgegeben: den „weichen Brexit“.

Der EU-Austritt würde so organisier­t, dass Großbritan­nien der EU eng verbunden bliebe, indem man einen neuen modernen Freihandel­svertrag nach Ceta-Vorbild macht. 4,3 Millionen EU-Bürger, davon eine Million Briten, behielten ihre EU-Rechte im Gastland. London müsste in der großzügig bemessenen Übergangsz­eit Beiträge zahlen. Vorläufig ungelöst blie- be, wie man die Frage der offenen Grenze zwischen EU-Mitglied Irland und Nordirland als Teil des „halben EU-Mitglieds“Großbritan­nien löst.

Auch dabei setzt das 585-SeitenPapi­er auf Zeitgewinn. Wenn das Königreich eine Freihandel­szone ohne Zölle eingeht, erübrigt sich die Grenzfrage. Wenn nicht, wird Nordirland wieder zum gemeinsame­n „Friedenspr­ojekt“von EU und Drittland Großbritan­nien. Gemäß dem Karfreitag­sabkommen könnte man dann alle Iren in Nord und Süd in einem Referendum befragen, ob sie sich wiedervere­inigen wollen und wohin sie gehören wollen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria