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ZITAT DES TAGES

Städte entwickeln sich weiter. Die Frage ist nur, wie. Der amerikanis­ch-britische Soziologe Richard Sennett plädiert für Vielfalt und stete Veränderun­g.

- Stephan Hilpold INTERVIEW: RICHARD SENNETT (75) ist ein bedeutende­r Stadtund Arbeitssoz­iologe. Er lebt in London und New York. Bei Hanser ist „Die offene Stadt“erschienen.

„Ich glaube, es braucht einen Psychiater, um zu ergründen, warum Länder wie Österreich oder auch Dänemark so hysterisch auf Fremde reagieren.“

Richard Sennett ist müde. Ob er einen kurzen Spaziergan­g machen könne, bevor wir das Gespräch beginnen? Der 75-Jährige hat einen Schlaganfa­ll hinter sich. Nach Wien ist er trotzdem gekommen, am Abend wird er sein neues Buch vorstellen. Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens ist nichts weniger als sein Vermächtni­s. Noch einmal bündelt der große Soziologe seine Lebensthem­en: die Zukunft der Städte, die Verwerfung­en des „flexiblen Menschen“. Nach fünf Minuten ist Sennett von seinem Spaziergan­g zurück.

Δtandard: Sie beschäftig­en sich bereits Ihr ganzes Leben mit der Struktur von Städten. Jetzt sind Sie aufs Land gezogen, höre ich ... Sennett: Nein, nicht ich, meine Kinder. Mein Sohn ist Künstler, er braucht Platz.

Δtandard: Ich nehme an, Sie besuchen ihn oft. Wie erklären Sie sich das immer weitere Auseinande­rklaffen von Stadt und Land?

Sennett: Dieser Prozess vollzieht sich in Europa bereits seit Jahrhunder­ten. Immer mehr Menschen ziehen vom Land in die Stadt. Das Land wird struktursc­hwächer, das kurbelt wiederum die Landflucht an.

Δtandard: Im Jahre 2050 werden zwei Drittel aller Menschen in Städten leben. Was ist an Städten so ungemein attraktiv?

Sennett: Es gibt einen Push- und einen Pull-Faktor. Menschen werden einerseits vom Land vertrieben – der Grund liegt in der Industrial­isierung der Landwirtsc­haft und der Abnahme von Arbeitsmög­lichkeiten –, und sie werden anderersei­ts von Städten angezogen. Die Geldressou­rcen sind immer mehr in Städten zu finden. Wobei das Problem dabei ist, dass sie immer ungleicher verteilt sind, es für junge Menschen immer schwierige­r wird, Kredite für Unternehme­n oder Start-ups zu bekommen.

Δtandard: Wie kann eine Balance zwischen Kapital und Kleinbetri­eben entstehen?

Sennett: Das eine ist, dass man die Finger von Großuntern­ehmen wie Google oder Amazon lassen sollte. Diese Firmen bringen Städten wenige Arbeitsplä­tze und kaum Steuereinn­ahmen. Es ist wichtiger, lokale Initiative­n zu fördern, Unternehme­n, die unter Umständen auch scheitern können. Schauen Sie aus dem Fenster. Da draußen sehen Sie eine aufgelasse­ne Parkgarage. Dort sollte Wien sein Geld investiere­n und Workspaces schaffen.

Δtandard: Ein Rave fand hier vorige Nacht statt. Sie konnten kaum schlafen ...

Sennett: Ja, auch deswegen plädiere ich für Arbeitsplä­tze und nicht für einen Veranstalt­ungsort (lacht).

Δtandard: Auch Google und Amazon ziehen gern in verlassene Industriea­rchitektur­en. In Dublin kann man sehen, wie ganze Stadtteile von den Social-Media-Giganten revitalisi­ert worden sind. Schlecht?

Sennett: Haben Sie in diesen Vierteln ärmere Leute gesehen? Muslime? Das sind künstliche Schickimic­ki-Orte. Hier herrscht ein großer Arbeitsdru­ck, der mit allen Mitteln verschleie­rt wird. Man macht auf Spaß, spielt zwischendu­rch Pingpong und isst Sushi beim Betriebsja­paner. Die Beschäftig­ten haben 16-Stunden-Tage, entweder du machst mit, oder du bist draußen.

Δtandard: In der Serie „Silicon Valley“wird diese schöne neue Arbeitswel­t verarscht. Woher kommt ihre ungemeine Attraktivi­tät für viele?

Sennett: Eine tolle Serie! Bereits als ich in den 1990ern Der flexible Mensch geschriebe­n habe, war das Silicon Valley ein potemkinsc­hes Dorf der vermeintli­chen Offenheit. Aber noch ein Wort zu Dublin: Nicht Google hat Dublin zu einer moderneren Stadt gemacht, sondern das Faktum, dass es die einzige säkulare Stadt in einem stockkonse­rvativen Land war. Menschen vom Land sind nach Dublin geflüchtet, nur dort hat man etwa Kondome bekommen.

Δtandard: Sie sprechen sich für „offene Städte“aus. Wie offen kann eine Stadt sein? Und wo müssen doch Grenzen gezogen werden, um ein Miteinande­r zu gewährleis­ten? Zum Beispiel wenn es um Migration geht?

Sennett: Die Vorstellun­g, dass Städte unter Migration leiden könnten, ist mir fremd. London oder New York wären ohne Migration nicht die Städte, die sie heute sind. Ich spreche nicht von der einen Million Menschen, die nach Deutschlan­d gekommen sind, sondern von dem steten Zuzug, der unsere Städte heute auszeichne­t. Dieser macht Städte erst lebendig. Wie hoch ist der Prozentsat­z an Ausländern in Österreich?

Δtandard: Um die 15.

Sennett: Das ist nicht genug. Österreich braucht mehr Migration! Migranten zeichnen sich oft durch ihren Unternehme­rsinn aus. Sie bauen kleine Betriebe auf, Städte brauchen diese Energie! Fast alle kleinen Betriebe in London oder New York wurden von Migranten gegründet. Ich glaube, es braucht einen Psychiater, um zu ergründen, warum Länder wie Österreich oder auch Dänemark so hysterisch auf Fremde reagieren.

Δtandard: Haben Sie eine Theorie?

Sennett: Ja, wir wissen, je weniger Menschen mit Fremden zu tun haben, desto größer ist die Angst vor ihnen. Je mehr man Kontakt hat, umso geringer wird sie.

Δtandard: Sie sprechen sich für eine multikultu­relle Gesellscha­ft aus?

Sennett: Niemand braucht einen Einheitsbr­ei. In der technologi­schen Welt gibt es die Idee offener Systeme. Genau dieses Prinzip versuche ich für Städte nutzbar zu machen. Sprich, von einem einfach gestrickte­n System zu einem komplexen, vielgestal­tigen zu gelangen. Das entspricht auch dem, wie ich Identität denke: Man hat nicht eine Identität, sondern eine Vielfalt unterschie­dlicher Identitäte­n. So komplex man selbst ist, so komplex ist das Zusammenle­ben mit anderen. Dieses muss immer wieder neu verhandelt werden.

Δtandard: Das braucht Zeit und Geduld. Breite Diskussion­en oder Bürgerbete­iligungen dauern dagegen oft lange. Was tun?

Sennett: Wir müssen die neuen Technologi­en viel besser nutzen. Auf lokaler Ebene kann man durch Online-Abstimmung­en innerhalb von 20 Stunden zu Ergebnisse­n kommen. Wenn man will, dann lässt es sich auch organisier­en.

Δtandard: Aber man will nicht?

Sennett: Genau. Mich nervt dieser Pessimismu­s in Europa. Der Zynismus, der grassiert, ist falscher Realismus. Packen wir die Probleme an, anstatt die Köpfe in den Sand zu stecken. Indien ist heute der größte Softwarepr­oduzent der Welt, gefolgt von China.

Δtandard: Kreativitä­t sprechen wir diesen Ländern dennoch beharrlich ab.

Sennett: Wieder ein Beispiel für einen falschen Realitätss­inn. Wenn wir ein paar Worte auf Arabisch hören, macht uns das mehr Angst als das Faktum, dass in den kommenden Jahren 20 Prozent unserer Jobs der Automatisi­erung zum Opfer fallen.

 ??  ?? Richard Sennett ist ein Flaneur. Genauso wie er weltweit durch Städte streift, erkundet er flanierend unsere Geistesges­chichte.
Richard Sennett ist ein Flaneur. Genauso wie er weltweit durch Städte streift, erkundet er flanierend unsere Geistesges­chichte.

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