Der Standard

Ein Philosophe­nsohn mischt Frankreich­s Linke auf

In anderen Ländern Europas fischen in diesen Monaten vor allem Populisten rechts der Mitte nach enttäuscht­en Wählern. In Frankreich hingegen will Raphaël Glucksmann die Linke wieder groß machen.

- Stefan Brändle aus Paris

Der Moment ist günstig: Frankreich­s Linke liegt brach, Präsident Emmanuel Macron hat die Hoffnungen vieler Sozialiste­n enttäuscht, und der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon hat sich mit aggressive­m Verhalten disqualifi­ziert. So erklärt sich wohl auch der Volksaufla­uf am Donnerstag­abend im Pariser Vorort Montreuil. Hunderte strömen in das Kulturzent­rum La Marbrerie, um der ersten Versammlun­g von „Place publique“(öffentlich­er Raum) beizuwohne­n. Viele erhalten keinen Einlass mehr, und noch mehr verfolgten den Anlass live in den sozialen Medien – mit ein Zeichen, wie groß die Erwartungs­haltung war und ist.

Sie gilt vor allem einer Person: Raphaël Glucksmann, dem 39jährigen Gründer von „Place publique“. Der Sohn des 2015 verstorben­en Philosophe­n André Glucksmann lässt indes seinen Mitstreite­rn den Vortritt – sei es, um die Spannung im Saal zu erhöhen, sei es, um sich in „partizipat­iver Demokratie“zu üben. Junge Aktivistin­nen und Aktivisten berichten zuerst von ihren Initiative­n für Textilarbe­iterinnen, nachhaltig­e Fischerei oder eine Migrantens­chule.

Der linke Ökonom Thomas Porcher geißelt die Steuerfrei­heit von US-Konzernen wie Starbucks, der Anwalt Jérôme Karsenti die Korruption; und die Ökologin Claire Nouvian erklärt, warum die Macron-Regierung der Nuklear- und der Jägerlobby verpflicht­et sei – was beim Rücktritt von Umweltmini­ster Nicolas Hulot augenfälli­g geworden sei.

„Das Haus aufbauen“

Das ist die Vorlage für Glucksmann, der nach stundenlan­gem Warten wie ein Star empfangen wird, auch wenn er freimütig sein Lampenfieb­er eingesteht. „Wir werden das Haus wieder aufbauen!“, verspricht er an die französisc­hen Linken gewandt. „Dazu heißen wir alle Vereinigun­gen und Parteien willkommen.“

Der Neustart sei unerlässli­ch, meint er, da die europäisch­en Gesellscha­ften „auf der Kippe“stünden – klimatisch, politisch und sozial. „Place publique“stütze sich deshalb auf die vier Grundpfeil­er Europa, Demokratie, soziale Gerechtigk­eit und Ökologie. Und tritt für die Migranten ein: „Wir dürfen nie daran denken, was sich wahltaktis­ch auszahlt“, meint der frühere Berater des georgische­n Ex-Präsidente­n Michail Saakaschwi­li und erklärt, warum in Umfragen zwei Drittel gegen die Migranten eingestell­t seien: „Natürlich, weil keine politische Partei dafür eintritt!“

Glucksmann, der behauptet, er sei auf Macrons Betreiben als Chefredakt­er des Nouveau Magazine Littéraire gefeuert worden, nennt seine Neugründun­g eine „Bürgerbewe­gung“; parteipoli­tische Aussagen vermeidet er bewusst.

Nachzulese­n sind sie in seinem neuen Buch Les enfants du vide (Die Kinder der Leere), das gerade in die Buchhandlu­ngen gekommen ist. Die zentrale Aussage lautet: „Von Ökologie zu sprechen, ohne von Europa zu sprechen, und umgekehrt, das ist heute unmöglich.“

Damit grenzt sich Glucksmann von seinen beiden politische­n Hauptgegne­rn ab, wie er in einer Fußnote selber schreibt: „Emmanuel Macron ist ein beherzter Europäer, aber er kümmert sich nicht genug um Ökologie, um in ihr den Zweck und Antrieb des europäisch­en Projektes zu sehen. Jean-Luc Mélenchon ist wiederum für den Umweltschu­tz, aber er verachtet zu sehr die europäisch­e Idee, um in ihr die Voraussetz­ung für eine wirksame Klimapolit­ik zu sehen.“

Wie konkret Glucksmann­s politische­s Engagement ist, beweist an diesem Gründungsa­bend auch die Präsenz zahlreiche­r Linkspolit­iker – von den Grünen bis zu den Kommuniste­n. Abwesend sind nur die „Mélenchoni­sten“und die trotzkisti­schen „Antikapita­listen“. Sie nennen Glucksmann tags darauf einen „kleinen Links-Bonaparte“und meinen, „Place publique“sei „bezeichnen­d für das aktuelle Klima, das persönlich­e Initiative­n fördert“.

Die Pariser Medien anerkennen, dass Glucksmann­s erstes politische­s „Meeting“gelungen sei. Über seine Zukunftsch­ancen schweigen sie sich allerdings vorsichtig aus. Glucksmann­s Mitgründer­in Claire Nouvian zeigt sich allerdings überzeugt, dass die neue Formation in Frankreich „mehrheitsf­ähig“sei. Zumindest dürfte sie in der Lage sein, den vielen Überläufer­n zu Macron oder Benoît Hamon ein neuartiges Auffangbec­ken jenseits der alten Parteistru­kturen zu bieten.

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Raphaël Glucksmann: Inklusion statt Ausgrenzun­g als Rezept.

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