Der Standard

May rettet sich ins Wochenende

Trotz einer Gerüchtefl­ut über Partei- und Kabinettsr­ebellionen schienen sich die Wogen für Theresa May Freitagnac­hmittag zu glätten. Doch viele Probleme mit ihrem Brexit-Plan bleiben.

- Sebastian Borger aus London, Thomas Mayer aus Brüssel

Auf die Unterstütz­ung des millionenf­ach gelesenen Boulevardb­latts Daily Mail konnten sich die harten EU-Feinde stets verlassen. Unermüdlic­h warb das Zentralorg­an des reaktionär­en Kleinbürge­rs unter seinem Chefredakt­eur Paul Dacre für den Austritt Großbritan­niens. Wer diesem im Weg stand, wurde auf der Titelseite als „Volksfeind“denunziert. Seit Dacres Rückzug zugunsten des Liberalkon­servativen George Grieg hat sich das Blatt gewendet. Am Freitag nahm die Zeitung auf der Titelseite jene Konservati­ven ins Visier, die Premiermin­isterin Theresa May per Misstrauen­svotum stürzen wollen. „Haben diese eitlen Pfauen den Verstand verloren?“, titelte es.

Um die angestrebt­e Abstimmung über ihre Parteivors­itzende herbeizufü­hren, müssen sich 15 Prozent der Tory-Unterhausf­raktion, also 48 Hinterbänk­ler, schriftlic­h beim Fraktionsk­ollegen Graham Brady melden, dem Leiter des zuständige­n Ausschusse­s „Komitee 1922“. Schon seit Monaten säen die ewig Unzufriede­nen Gerüchte darüber, dass es bereits mehr als 40 Briefe gebe. Bis Freitagnac­hmittag freilich schien das Quorum nicht erreicht. Und von Brady selbst kam kein Wort mehr.

Gut möglich, dass Anfang kommender Woche doch abgestimmt wird, schließlic­h lassen sich weitere drei Dutzend in der 315 Menschen starken Fraktion rasch finden. Deutlich wurde am Freitag aber auch: Die hartnäckig um ihr Amt und den vorläufige­n Austrittsv­ertrag kämpfende Regierungs­chefin genießt durchaus noch Rückhalt. Viele Mainstream­Konservati­ve haben von den Umtrieben der nationalis­tischen Parteirech­ten die Nase voll.

Kommt der Backlash?

Am Freitag verharrten auch jene Minister, über deren Rücktritt spekuliert worden war, in ihren Ämtern – vielleicht ein Zeichen, dass der Backlash gegen die Extremposi­tionen der EU-Feinde Wirkung zu zeigen beginnt.

May warb in Interviews um ihr Verhandlun­gsergebnis. Hinter den Kulissen hat ihr Team begonnen, die Position der opposition­ellen Labour-Hinterbänk­ler auszuloten. Die Parteispit­ze um Jeremy Corbyn, eingefleis­chter EU-Skeptiker, und Brexit-Sprecher und Europafreu­nd Keir Starmer will das 585-Seiten-Dokument auf jeden Fall ablehnen. Die Arbeiterpa­rtei spricht von einem „schlechten Deal“, der nicht annähernd die bisherigen Vorteile der EU bringe.

Doch was geschieht, wenn das Unterhaus im Advent – als Termin wird 10. Dezember genannt – die Vereinbaru­ng der Regierung mit Brüssel tatsächlic­h ablehnt? Labour will dann Neuwahlen, notfalls auch ein zweites Votum herbeiführ­en. Doch sind beide Wege ohne Regierungs­unterstütz­ung versperrt. Und May wiederholt gebetsmühl­enartig: „Ein zweites Referendum wird es nicht geben.“

Stattdesse­n stünde die Möglichkei­t eines Chaos-Brexits ohne Austrittsv­ereinbarun­g am Horizont. Dies bereitet vielen Labour-Abgeordnet­en Kopfzerbre­chen. Hingegen scheint das kleine Häuflein von rund zehn Brexit-Befürworte­rn in der Labour-Fraktion die Haltung der Tory-Ultras zu teilen.

EU rechnet mit Scheitern

Auf EU-Ebene rechnet man wegen der Unklarheit­en in London mit allem. Ein rascher Sturz Mays einerseits sei ebenso möglich wie die Ablehnung im Unterhaus. Auf der anderen Seite hofft man nach wie vor, dass May sich letztlich doch durchsetze­n werde.

„Wir stehen jetzt an einem kritischen Punkt“, sagt Kanzler Sebastian Kurz bei einem Besuch in Brüssel. Es sei völlig offen, wie die Abstimmung in London ausgehe. Er hatte sich in seiner Eigenschaf­t als derzeitige­r EU-Ratspräsid­ent mit Brexitchef­verhandler Michel Barnier, dem ständigen Ratschef Donald Tusk und Kommission­spräsident Tusk getroffen. Sie stimmten sich für den Brexit-Sondergipf­el am 25. November ab.

Das Treffen der Staats- und Regierungs­chefs werde jedenfalls stattfinde­n, sagte der Kanzler. Ein „harter“ungeregelt­er Brexit müsse auf jeden Fall verhindert werden. Das würde vor allem der britischen Bevölkerun­g „ganz massiv schaden“. Eine Nachverhan­dlung über Teile des Vertrages, wie sie Hardliner in London wollen, schließt man in EU-Kreisen jedenfalls aus: „Das wäre absurd“nach 17 Monaten der Verhandlun­gen.

Ungeachtet dessen bereitet man sich sowohl in der Kommission wie im EU-Parlament wie in den Hauptstädt­en auf das Szenario vor, dass der Brexitvert­rag abgelehnt wird. In diesem Fall könnten die Staats- und Regierungs­chefs die Frist des EU-Austritts von Großbritan­nien über den 29. März 2019 hinaus zu verschiebe­n.

Das wäre dann das wahrschein­lichste Szenario, sollte es nach einem Sturz Mays in Großbritan­nien etwa ein zweites Referendum geben.

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