May rettet sich ins Wochenende
Trotz einer Gerüchteflut über Partei- und Kabinettsrebellionen schienen sich die Wogen für Theresa May Freitagnachmittag zu glätten. Doch viele Probleme mit ihrem Brexit-Plan bleiben.
Auf die Unterstützung des millionenfach gelesenen Boulevardblatts Daily Mail konnten sich die harten EU-Feinde stets verlassen. Unermüdlich warb das Zentralorgan des reaktionären Kleinbürgers unter seinem Chefredakteur Paul Dacre für den Austritt Großbritanniens. Wer diesem im Weg stand, wurde auf der Titelseite als „Volksfeind“denunziert. Seit Dacres Rückzug zugunsten des Liberalkonservativen George Grieg hat sich das Blatt gewendet. Am Freitag nahm die Zeitung auf der Titelseite jene Konservativen ins Visier, die Premierministerin Theresa May per Misstrauensvotum stürzen wollen. „Haben diese eitlen Pfauen den Verstand verloren?“, titelte es.
Um die angestrebte Abstimmung über ihre Parteivorsitzende herbeizuführen, müssen sich 15 Prozent der Tory-Unterhausfraktion, also 48 Hinterbänkler, schriftlich beim Fraktionskollegen Graham Brady melden, dem Leiter des zuständigen Ausschusses „Komitee 1922“. Schon seit Monaten säen die ewig Unzufriedenen Gerüchte darüber, dass es bereits mehr als 40 Briefe gebe. Bis Freitagnachmittag freilich schien das Quorum nicht erreicht. Und von Brady selbst kam kein Wort mehr.
Gut möglich, dass Anfang kommender Woche doch abgestimmt wird, schließlich lassen sich weitere drei Dutzend in der 315 Menschen starken Fraktion rasch finden. Deutlich wurde am Freitag aber auch: Die hartnäckig um ihr Amt und den vorläufigen Austrittsvertrag kämpfende Regierungschefin genießt durchaus noch Rückhalt. Viele MainstreamKonservative haben von den Umtrieben der nationalistischen Parteirechten die Nase voll.
Kommt der Backlash?
Am Freitag verharrten auch jene Minister, über deren Rücktritt spekuliert worden war, in ihren Ämtern – vielleicht ein Zeichen, dass der Backlash gegen die Extrempositionen der EU-Feinde Wirkung zu zeigen beginnt.
May warb in Interviews um ihr Verhandlungsergebnis. Hinter den Kulissen hat ihr Team begonnen, die Position der oppositionellen Labour-Hinterbänkler auszuloten. Die Parteispitze um Jeremy Corbyn, eingefleischter EU-Skeptiker, und Brexit-Sprecher und Europafreund Keir Starmer will das 585-Seiten-Dokument auf jeden Fall ablehnen. Die Arbeiterpartei spricht von einem „schlechten Deal“, der nicht annähernd die bisherigen Vorteile der EU bringe.
Doch was geschieht, wenn das Unterhaus im Advent – als Termin wird 10. Dezember genannt – die Vereinbarung der Regierung mit Brüssel tatsächlich ablehnt? Labour will dann Neuwahlen, notfalls auch ein zweites Votum herbeiführen. Doch sind beide Wege ohne Regierungsunterstützung versperrt. Und May wiederholt gebetsmühlenartig: „Ein zweites Referendum wird es nicht geben.“
Stattdessen stünde die Möglichkeit eines Chaos-Brexits ohne Austrittsvereinbarung am Horizont. Dies bereitet vielen Labour-Abgeordneten Kopfzerbrechen. Hingegen scheint das kleine Häuflein von rund zehn Brexit-Befürwortern in der Labour-Fraktion die Haltung der Tory-Ultras zu teilen.
EU rechnet mit Scheitern
Auf EU-Ebene rechnet man wegen der Unklarheiten in London mit allem. Ein rascher Sturz Mays einerseits sei ebenso möglich wie die Ablehnung im Unterhaus. Auf der anderen Seite hofft man nach wie vor, dass May sich letztlich doch durchsetzen werde.
„Wir stehen jetzt an einem kritischen Punkt“, sagt Kanzler Sebastian Kurz bei einem Besuch in Brüssel. Es sei völlig offen, wie die Abstimmung in London ausgehe. Er hatte sich in seiner Eigenschaft als derzeitiger EU-Ratspräsident mit Brexitchefverhandler Michel Barnier, dem ständigen Ratschef Donald Tusk und Kommissionspräsident Tusk getroffen. Sie stimmten sich für den Brexit-Sondergipfel am 25. November ab.
Das Treffen der Staats- und Regierungschefs werde jedenfalls stattfinden, sagte der Kanzler. Ein „harter“ungeregelter Brexit müsse auf jeden Fall verhindert werden. Das würde vor allem der britischen Bevölkerung „ganz massiv schaden“. Eine Nachverhandlung über Teile des Vertrages, wie sie Hardliner in London wollen, schließt man in EU-Kreisen jedenfalls aus: „Das wäre absurd“nach 17 Monaten der Verhandlungen.
Ungeachtet dessen bereitet man sich sowohl in der Kommission wie im EU-Parlament wie in den Hauptstädten auf das Szenario vor, dass der Brexitvertrag abgelehnt wird. In diesem Fall könnten die Staats- und Regierungschefs die Frist des EU-Austritts von Großbritannien über den 29. März 2019 hinaus zu verschieben.
Das wäre dann das wahrscheinlichste Szenario, sollte es nach einem Sturz Mays in Großbritannien etwa ein zweites Referendum geben.