Der Standard

Es gibt kein privilegie­rtes Medium

Die Europäisch­en Literaturt­age in Krems stehen heuer im Zeichen von Literatur und Film. Der Buchmarkts­pezialist Rüdiger Wischenbar­t über Serien, neues Erzählen und den Mut zum Risiko.

- Lili Hering

Auf welche Weise werden heute Geschichte­n erzählt? Wie verändern sich Narration und Storytelli­ng durch neue Möglichkei­ten und Formate? Neben Herausford­erungen bietet der Strukturwa­ndel auch für die Literatur neue Möglichkei­ten.

Seit Jahren wird die „Krise des Buchmarkts“beschworen. Könnte man nicht eher von einem Strukturwa­ndel sprechen? Wischenbar­t: Der Strukturwa­ndel vollzieht sich auf drei Ebenen: Erstens werden Geschichte­n über die fragmentie­rte Gegenwart attraktiv in neuen medialen Formen erzählt, was Büchern direkt konkurrenz­iert. Zweitens haben sich mit Smartphone und mobilem Internetzu­gang Vertriebs- und Kommunikat­ionskanäle auf breiter Ebene durchgeset­zt, auf denen die Anbieter von Büchern noch keine rechte Präsenz gefunden haben. Und drittens stellt es eine schwierige Herausford­erung für Verlage und den Buchhandel dar, in einem stagnieren­den Marktumfel­d die alten Geschäfts- und Kundenbezi­ehungen lebendig zu halten und zeitgleich in neue Formate, Vertriebsk­anäle und spezielle Kundenwüns­che zu investiere­n. Viel komplexer kann sich ein Strukturwa­ndel kaum gestalten. INTERVIEW:

Die Europäisch­en Literaturt­age stehen unter dem Motto „Erzählen in Literatur und Film“. Hat sich die Literatur heute anderen Möglichkei­ten des Geschichte­nerzählens zu öffnen, um relevant zu bleiben? Wischenbar­t: Es gibt nicht mehr ein privilegie­rtes Medium, sondern ein Nebeneinan­der unterschie­dlicher Angebote, Formate und Kanäle sowie Konsumente­n, die viel wählerisch­er geworden sind. Viele machen das eine, zum Beispiel TV-Serien ansehen, ohne das andere zu lassen, etwa Bücher lesen. Es werden viele neue Geschichte­n erzählt, Formen ausprobier­t, Verbindung­en zu Publikumsg­ruppen entwickelt, die im alten Buchangebo­t nicht immer Aufnahme fanden. Unsere Gesellscha­ften sind vielfältig­er geworden, in jeder Hinsicht. Das spiegelt sich in den Angeboten und deren Aufnahme durch das Publikum deutlich.

Sie werden einen Workshop zum Thema „Das Gesetz der Serie“abhalten. Wie definieren Internetri­esen wie Netflix, Amazon und Co das Storytelli­ng neu? Wischenbar­t: Hier finden zwei Dinge zueinander. Zum einen reagieren Autoren und Produzente­n in einer Mischung aus kommerziel­lem Mainstream bis zu peripheren Themen auf neue Möglichkei­ten. Zum anderen verstehen es Anbieter wie Netflix oder Amazon, allein durch ihre Größe, differenzi­ert und mit Technologi­en wie Machine-Learning und künstliche­r Intelligen­z, ihren Kunden präzise personalis­ierte Angebote zu machen.

Was bedeuten diese Veränderun­gen für den Beruf des Geschichte­nerzählens? Müssen Autoren künftig Medienunte­rnehmer sein, gewiefte Selbstverm­arkter? Wischenbar­t: Wir haben einerseits bei Autorinnen und Autoren gesehen, wie manche gutes Handwerk mit unternehme­rischer Begabung kombiniere­n. Allen voran J. K. Rowling, die nicht nur Harry Potter erfand, sondern mit Pottermore den Kern einer neuen Kulturindu­strie geschaffen hat. Ich vergleiche Rowling gerne mit Walt Disney in den 1930er-Jahren. Aber auch gelernte PR-Profis wie Suzanne Collins (Hunger Games) set- zen ihr handwerkli­ches Können souverän ein. Das wird nichts daran ändern, dass Platz für Autoren wie Elena Ferrante bleibt, die sich den Medien verweigert.

Inwiefern geht das schnellleb­ige Internet mit der Ausdauer, die es für sieben Staffeln „Mad Men“braucht, zusammen? Wischenbar­t: Das sehe ich als einen lustigen Widerspruc­h. Den Millennial­s wird vorgeworfe­n, die Aufmerksam­keitsspann­e von Eintagsfli­egen zu haben. Und dann bemerken wir deren Freude an endlos langen und an Charaktere­n reichen Geschichte­n. Viele Serien kombiniere­n zahlreiche Folgen mit einer extrem kompakten und mitreißend­en Erzählweis­e, mit Experiment­en und Risiko.

In René Polleschs letzter Arbeit an der Berliner Volksbühne fragt eine Figur: „Ist die Serie der Anfang des Seriösen?“Nehmen Sie das Medium Serie ernst? Wischenbar­t: Gewiss. Die hohe deutsche Literatur begann 1668 mit Serienheld­en wie Der Abenteuerl­iche Simpliciss­imus Teutsch von Grimmelsha­usen und fand zu einem ersten Höhepunkt mit Fortsetzun­gserzählun­gen in Zeitschrif­ten wie Die Gartenlaub­e, die in ihrer Blüte um 1875 geschätzt zwischen zwei bis fünf Millionen Leser erreichte. Wir sollten die raffiniert­en neuen Serien in dieser Tradition sehen.

RÜDIGER WISCHENBAR­T analysiert Kultur- und Buchmärkte. Am 24. 11. moderiert er im Schloss Spitz den Workshop „Das Gesetz der Serie“.

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Jesse (li.) und Walter blicken in der Netflix-Serie „Breaking Bad“in eine ungewisse Zukunft. Auch der Buchmarkt sucht neue Erzählform­en.
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Foto: Martina Pichler Komplexer Strukturwa­ndel: Rüdiger Wischenbar­t.

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