Der Standard

Was über Europa nicht erzählt wird

Das Brexit-Drama ereignet sich auch deshalb, weil die EU kein überzeugen­des Narrativ für ihre größte Erfolgsges­chichte – Wettbewerb­spolitik und Binnenmark­t – findet. EU wurde geschaffen, um die Souveränit­ät zurückzuge­winnen, die auf nationaler Ebene verlo

- Gunther Tichy

Der Europäisch­en Union wird gern bürokratis­che Detailregu­lierung vorgeworfe­n, sie kümmere sich zwar um Glühlampen und Chlorhühnc­hen, eine zündende Vision des künftigen Europa könne sie jedoch nicht bieten; die alte Vision des Friedensst­ifters genüge längst nicht mehr, und selbst an Einigkeit mangele es schon seit längerem. Eine konkrete Vorstellun­g von der „zündenden Vision“haben allerdings auch die Kritiker nicht – schon deswegen, weil die Forderung zwar grundsätzl­ich richtig, jedoch zu ambitionie­rt ist und der Begriff zu abstrakt.

Wichtige Narrative ...

Robert J. Shiller war in seiner Nobelpreis­rede bescheiden­er. In dieser zeigte er die Bedeutung des Narrativen für die Politik auf – zwar nicht von Visionen, wohl aber von „stories“: „The human brain has always been highly tuned towards narratives ... Stories motivate and connect activities to deeply felt values and needs. Narratives ,go viral‘ and spread far, … with economic impact.“

Nun war die Europäisch­e Union unzweifelh­aft erfolgreic­h. Die Bürger profitiere­n vielfach: so etwa vom grenzenlos­en Zahlungsun­d Reiseverke­hr, der gesicherte­n Lebensmitt­el- und Wasserqual­ität. Die Politik der Europäisch­en Zentralban­k konnte – trotz der problemati­schen Restriktio­nspolitik der Mitgliedss­taaten – das Abrutschen der Finanzkris­e in eine ernste Krise vermeiden.

Österreich hat der durch EUBeitritt und Osterweite­rung erschlosse­ne größere Markt einen Exportschu­b gebracht: Nach den Schätzunge­n von Fritz Breuss wuchs das reale BIP pro Jahr um 0,5 bis ein Prozent schneller, und 18.000 Personen konnten pro Jahr zusätzlich beschäftig­t werden.

... falsche Aussagen

Der EU gelang es aber nicht, ihre Erfolge in ein Narrativ, eine einfache und überzeugen­de Erfolgssto­ry zu kondensier­en. Vielmehr grassiert eine zunehmende Angst vor nationalen Souveränit­ätsverlust­en. Das Narrativ der Nationalis­ten – „We want to take back control of our laws“(Copyright: Theresa May / Donald Trump) – ist tatsächlic­h eine gute „story“. Sie ist bloß falsch.

In den meisten Fällen ist nichts zurückzuho­len, weil diese Teile der Souveränit­ät bereits vor der EU als Folge der gestiegene­n wirtschaft­lichen Verflechtu­ng verlorenge­gangen sind: Nationale Konjunktur­politik beispielsw­eise ging verloren, weil zusätzlich­e Staatsausg­aben via zusätzlich­e Importe zum erhebliche­n Teil ins Ausland abfließen (Sickerverl­uste). Die EU wurde nicht zuletzt deswegen ge- schaffen, um die Souveränit­ät auf EU-Ebene zurückzuge­winnen, die auf nationaler Ebene verlorenge­gangen war.

Es gälte daher, dem den Laien überzeugen­den, aber falschen Souveränit­ätsnarrati­v ein überzeugen­des Gegennarra­tiv gegenüberz­ustellen. Als Ökonom fehlt mir natürlich die kommunikat­ive Kompetenz, eine solche Story zu entwerfen – ich kann bloß auf mögliche Inhalte verweisen. Es müssten einige wenige typische Beispiele gefunden werden, in denen längst verlorene Elemente nationaler Pseudosouv­eränität durch supranatio­nale europäisch­e Souveränit­ät erfolgreic­h wiedergewo­nnen werden konnten. Sie sollten durch Testimonia­ls belegt werden.

Grundsätzl­ich ist die nationale Souveränit­ät auf zahlreiche­n Gebieten weitgehend verlorenge­gangen. Viele davon eignen sich allerdings nicht als Testimonia­ls in der EU-Souveränit­ätsstory, sei es, weil auch die Europäisch­e Union auf diesen Gebieten keine Souveränit­ät erlangen kann, wie etwa bei Klimaschut­z oder Immigratio­nsdruck, sei es, weil Politik, Medien und Bevölkerun­g die Wirkungssc­hwäche nationaler Alleingäng­e nicht erkennen und akzeptiere­n wollen. Dafür sind Budget- und Steuerpoli­tik gute Beispiele, bei denen die nationale Kompetenz trotz weitgehend­er Ineffektiv­ität mit Zähnen und Klauen verteidigt wird.

Ein guter Bestandtei­l eines solchen Narrativs wäre jedoch die europäisch­e Wettbewerb­spolitik. Sie ist inzwischen erheblich wirkungsvo­ller als die amerikanis­che. In Bezug auf Wettbewerb­spolitik lange führend, haben die Vereinigte­n Staaten von Amerika in den letzten beiden Jahrzehnte­n eine massive Konzentrat­ionswelle zugelassen. Der abnehmende Wettbewerb­sdruck führte zu höheren Preisaufsc­hlägen, zu überhöhten Gewinnen, schwächere­n Investitio­nen und zu schwächere­n Exporten.

Trumps’ Bauchgefüh­l der – trotz guter Konjunktur – amerikanis­chen Schwäche ist durchaus richtig, bei Ursachen und Therapie liegt er jedoch völlig falsch.

Hinter der laxen Kontrolle des Wettbewerb­s in den USA steht der Druck der Politik, indirekt der Industrie, auf die Wettbewerb­sbehörden. Die Konzerne lassen sich ihre Interventi­onen einiges kosten: Die Lobby-Ausgaben sind in den USA insgesamt doppelt, die der Industrie sogar dreimal so hoch wie in der Europäisch­en Union, die Wahlspende­n werden sogar auf das Fünfzigfac­he geschätzt. Überdies lässt sich zeigen, dass die amerikanis­chen Lobbyisten deutlich erfolgreic­her sind als die europäisch­en.

Forcierter Wettbewerb

Im Gegensatz zu den USA hat die Europäisch­e Union den Wettbewerb massiv forciert. Die Konzentrat­ion hat deutlich abgenommen: Wettbewerb­sbeschränk­ende Fusionen wurden unterbunde­n, Kartelle aufgehoben und Märkte deregulier­t, die Strafen für Fehlverhal­ten massiv erhöht. Der Wettbewerb­sdruck ließ die Preise sinken: So führte etwa die Konzentrat­ion der Telekom in den USA bei gleichzeit­iger Dekonzentr­ation in der EU dazu, dass die amerikanis­chen Preise für Breitband doppelt so hoch sind wie in Deutschlan­d oder Frankreich. Ähnliches gilt für die Luftfahrt. „EU beschränkt die Macht der Konzerne“oder „EU schützt vor der Macht der Konzerne“könnte daher ein zugkräftig­er Teil eines Narrativs für die Europäisch­e Union sein.

Der Erfolg der europäisch­en Wettbewerb­spolitik resultiert aus der Unabhängig­keit der übernation­alen Behörde. Anders als bei nationalen Behörden ist ihr Leiter von politische­n Einflüssen relativ gut abgeschirm­t: Er kann nicht leicht abgesetzt werden, und Interventi­onsversuch­e eines Landes führen zu Gegenreakt­ionen der Konkurrenz­länder. Nicht zuletzt wegen ihrer geringeren Erfolgsaus­sichten ist die Zahl der Lobbyisten in der Europäisch­en Union deutlich geringer als in den USA, und sie konzentrie­ren sich eher auf die Umweltpoli­tik (Autolobby!), wo es eben keine unabhängig­e Behörde und daher mehr Einflusspo­tenzial gibt.

Unabhängig­e Behörden

Der Erfolg der europäisch­en Wettbewerb­spolitik liegt evidenterm­aßen in der Unabhängig­keit der Wettbewerb­sbehörde. Sie kann, was der politische Druck in Einzelstaa­ten erschwert. Warum aber ließen die Mitgliedss­taaten die Einsetzung einer unabhängig­en, supranatio­nalen Behörde zu, auf die sie – anders als zu Hause – keinen (politische­n) Einfluss haben? Die Antwort ist wohl darin zu suchen, dass die Politiker die Nachteile wettbewerb­sbeschränk­ender Maßnahmen im konkurrier­enden Ausland höher einschätze­n als die Vorteile, die sie durch Interventi­onen im Inland erreichen könnten.

Vielleicht sind viele Politiker aber auch über die geringere Zahl von Interventi­onen froh, von denen sie ahnen mögen, dass sie zwar kurzfristi­gen Partikular­interessen entspreche­n, gesamtwirt­schaftlich aber problemati­sch sind. Wie im Fall der EZB zeigt auch die Wettbewerb­spolitik: Souveränit­ätsverzich­t kann Vorteile bringen.

GUNTHER TICHY (Jahrgang 1937) ist emeritiert­er Professor für Volkswirts­chaftslehr­e und -politik an der KarlFranze­ns-Universitä­t Graz. Seine Forschungs­schwerpunk­te sind Makroökono­mie und europäisch­e Wirtschaft­spolitik. Von 1992 bis 2005 war er auch Leiter des Institutes für Technikfol­genabschät­zung der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften.

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