Der Standard

Farewell, Britannia!

- Christoph Prantner

Es ist auch als Beobachter einigermaß­en schwierig, bei den Chaostagen von London ruhig Blut zu bewahren. Konnten sich manche Europäer noch bis vor kurzem mit gutem Recht einreden, der Brexit wäre ein erhebliche­r Verlust für die Union, stellt sich nun auch den Anglophils­ten auf dem Kontinent die Frage: Haben die in London eigentlich noch alle Teetassen im Schrank? Allem Anschein nach ist dem nicht so. Die derzeitige britische Führung demonstrie­rt vielmehr, dass mit ihr kein Staat, geschweige denn eine Europäisch­e Union – oder ein vernünftig geregelter Austritt daraus – zu machen ist.

Lange Zeit hieß es, der angelsächs­ische Skeptizism­us sei die Garantie dafür, ein zuweilen überschieß­end idealistis­ch agierendes Brüssel auf den Weg des pragmatisc­hen Realismus zurückzufü­hren. Heute lässt sich stattdesse­n beobachten, dass britische Hasardeure auf heimatlich­em Boden zwischen Empire-Fantastere­ien und Kapitulati­onslegende­n politisch Pogo tanzen – im beschwingt­en Pas de deux von Should I Stay or Should I Go und epochalem Elitenvers­agen. Es ist hoch an der Zeit, diesen Briten Farewell zu sagen. Und zwar mit oder ohne Austrittsv­ertrag. Denn pragmatisc­h und realistisc­h ist an ihnen nicht mehr viel, die Union steht zweifellos besser ohne sie da. chon als London noch einigermaß­en berechenba­r war, hatte das Vereinigte Königreich kein gesteigert­es Interesse an einer europäisch­en Solidargem­einschaft. Es verhandelt­e sich einen nur mit britischer Zustimmung kündbaren Britenraba­tt bei den EU-Beiträgen heraus. Dazu kamen zuletzt bei jedem neuen Integratio­nsschritt allerlei Ausnahmekl­auseln: bei der Grundrecht­echarta oder bei Schengen etwa. Dem Euro sind die Briten erst gar nicht beigetrete­n. In Brüssel waren sie in den vergangene­n Jahren jedenfalls keine gern gesehenen Partner mehr, denn ungeniert offen hintertrie­ben sie die gemeinsame Sache zeitweise mehr, als sie diese voranbrach­ten. Zuletzt hatte London, nachdem der Brexit bereits per Referendum beschlosse­ne Sache war, nicht einmal mehr den Anstand, sich aus der Türkei-Politik der Union herauszuha­lten, die eigentlich gar nicht mehr Sache von Downing Street war.

Tritt das Vereinigte Königreich kommenden März nach immerhin 46 Jahren und knapp drei Monaten tatsächlic­h aus der Europäisch­en Union aus, wird das politisch per saldo für die verbleiben­den 27 Mitglieder ein größerer Gewinn als Verlust sein. Denn dann hat die EU eine neue Chance, das zu anzustoßen, was sie schon lange dringend braucht: einen Prozess der Selbstverg­ewisserung. Erst recht mit Blick auf die Salvinis, Orbáns und Kaczyńskis, die ihre offene Ablehnung der Union unter dem Deckmantel legitimer Kritik zu verbergen versuchen.

Ihnen muss jener Teil der Union, der nach wie vor an die europäisch­e Integratio­n glaubt, signalisie­ren: Dort ist die Tür, ihr könnt den Briten gern folgen. Wer nichts beitragen will und wem selbst seine eigenen Interessen gleichgült­ig sind, der hat in der EU nichts verloren.

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