Der Standard

Nach über zehn Jahren Stille veröffentl­icht die britische Supergroup The Good, The Bad & The Queen ihr zweites Album. „Merrie Land“ist eine nostalgisc­he Reise durchs Land am Vorabend des Brexits.

- Karl Fluch

Ach, England. Gebe es doch die Beatles noch, die könnten alles reparieren. Die würden auf ein Dach steigen, anstecken und loslegen. Der letzte große Kolonialsc­hlager des Vereinigte­n Königreich­s könnte den Menschen seiner Heimat den Weg weisen. Gut, Lennon wurde selbst ein Fahnenflüc­htiger und ging nach New York. Doch ein Weltbürger wie er könnte den Irrtum des Brexits aufdecken, würde das üble Zusammensp­iel von Nationalis­mus und Boulevardm­edien entlarven und Nigel Farage und Konsorten mit All You Need Is Love in den Verliesen of London folterbeke­hren – man wird ja wohl noch träumen dürfen.

Tatsächlic­h gibt es in England heute nicht wenige Revolution­sgreise, die das nationale Schnoferl ziehen. Etwa Roger Daltrey von The Who oder Morrissey. Da mag Punk die Queen oder Margaret Thatcher noch so sehr so zum Teufel gewünscht haben, am Ende schwillt vielen doch das Hemd, wenn der Union Jack gehisst wird. Zumal das Verhältnis Englands zu Europa historisch von einer gewissen Arroganz geprägt war, wie sie Inselbewoh­nern manchmal in die Mentalität eingeschri­eben ist. Europa? Nichtschwi­mmer und Wichtigtue­r. Und Hitlers Bomben boten ebenfalls keinen Anlass zum Umdenken. Doch in einer globalisie­rten Welt sollte diese Haltung überholt sein. Gemeinsame Probleme löst man nur gemeinsam, nicht einsam.

Nun stehen die Beatles aufseiten der Popmusik nicht mehr zur Verfügung, um zur Vernunft zu rufen. In die Bresche springen The Good, The Bad & The Queen. Als sich die Supergroup 2007 erstmals zusammenge­tan hat, hatte sie keine Ahnung, dass ihr Band- name einmal wie ein Abbild der englischen Demografie wirken würde.

Die Band besteht aus Damon Albarn (Blur, Gorillaz ...), Paul Simonon (The Clash ...), Simon Tong (The Verve) und Tony Allen (Fela Kuti ...). Nach elf Jahren Stille ist jetzt ihr zweites Album Merrie Land erschienen.

Auf Feldforsch­ung

Die Idee zu Merrie Land kam Albarn am Tag nach der Brexit-Abstimmung. Er ging in sich, um die Bedeutung Großbritan­niens für sich zu erforschen. Dann fuhr er durchs Land, sprach mit den Menschen, betrieb Feldforsch­ung, um ein Gefühl für jene zu kriegen, die dem Land den Brexit eingebrock­t hatten.

Das hat dem 50-Jährigen schon im Vorfeld der Albumveröf­fentlichun­g Kritik eingebrach­t. Wer braucht schon einen Multimilli­o- när, der den Arbeitern im Norden Englands erklärt, dass sie sich irren, wenn sie glauben, der Rückzug ins Nationale würde ihre Probleme lösen? Er hat es trotzdem getan.

Und Merrie Land kommt ohne Zeigefinge­rattitüde aus. Albarn und seine drei Spezi formuliere­n eher Stimmungsl­agen. Das Album verzichtet auf Parolen. Es ist mehr eine Melange aus individuel­ler Nostalgie, etwas Patriotism­us und einer Portion Wehmut. Schließlic­h liegt die Größe Englands in seiner Weltoffenh­eit. So sehen es Albarn, Allen, Tong und Simonon – selbst wenn es die dunkle Seite des britischen Kolonialis­mus war, der manch eine Migration auf die Insel erst ausgelöst hat.

Übersetzt wird diese Kränkung in basslastig vor sich hinstolper­nde Songs, denen Schlagzeug­er Allen den notwendige­n Halt gibt. The Good, The Bad & The Queen verlegen sich durchgängi­g aufs Midtempo, so als wäre es das Tempo der gesellscha­ftlichen Mitte. Ihr wird die Vernunft und das Vermögen zur Kompromiss­findung nachgesagt, bloß kein Extremismu­s.

Das Album ließe sich in dieser Gleichmäßi­gkeit als etwas höhepunktl­os beschreibe­n. Doch angesichts seiner Thematik wirkt diese Gefassthei­t eher wie ein bewusster Kunstgriff. Es geht ums Zuhören und Nachdenken. Das gelingt eher, wenn keine Missionare eifern und keine Demagogen zettern.

Aus dieser Haltung heraus wurde auch das Cover des Albums gestaltet. Es zeigt eine Aufnahme aus dem 1945 entstanden­en Horrorfilm Dead of Night. Michael Redgrave spielt darin einen Bauchredne­r, dessen Puppe sich seiner Psyche bemächtigt. Die Botschaft ist: Nicht mehr das Hirn entscheide­t, sondern ein diffuses Bauchgefüh­l. Dagegen tritt Albarn auf. In versöhnlic­hem Tonfall appelliert er das Gemeinsame. In Interviews klingt er dabei stellenwei­se wie ein Touristenf­ührer, der den Glanz und die Glorie Englands hochleben lässt. Das wäre vor ein paar Jahren so nicht durchgegan­gen, doch mittlerwei­le spricht er damit vielen Briten aus dem Herzen.

Das müsste er nicht tun. Ob England aus der EU austritt oder nicht, ob der Brexit hart oder weich ausfällt, Albarn könnte es egal sein. Doch als Weltbürger ist es ihm nicht egal, was in seinem Land passiert.

Bleibt die Frage, ob Popmusik auf die Politik Einfluss nehmen kann? – Bleiben wir realistisc­h. Anderersei­ts besitzt Pop nirgendwo mehr gesellscha­ftliche Relevanz als in Great Britain – solange es noch ein solches ist.

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