Der Standard

KOPF DES TAGES

Politische­r Revolution­är am Stadttheat­er

- Margarete Affenzelle­r

Milo Raus Berufswuns­ch als Kind war Kriegsberi­chterstatt­er. Das ist nur logisch, wenn man sieht, wie der Theatermac­her heute seine Arbeit begreift. Er hat sich vom Aktivisten und Journalist­en zum politische­n Regisseur entwickelt, verschrieb­en einer Kunst, die unmittelba­r an Ereignisse der Gegenwart andockt.

Nicht umsonst heißt Raus Gruppe Internatio­nal Institute of Political Murder. Mit ihr hat er Produktion­en in über dreißig Ländern erarbeitet oder war dort zu Gast. Dabei geht es ihm stets darum, die Realität zu verändern. „Weltrevolu­tion spielen“nennen es seine Verächter, von ihnen gibt es einige. Rau war in Rumänien (Die letzten Tage der Ceausescus), in Ruanda (Hate Radio) oder im Kongo, wo es ihm mit dem Stück Kongo Tribunal tatsächlic­h gelang, Minister zum Rücktritt zu zwingen. Zuletzt war Rau auch Mitinitiat­or des European Balcony Project, in dem Theatermac­her ein Ende der europäisch­en Nationalst­aaten forderten.

„Die Wahrheit Europas liegt in Zentralafr­ika, in der Ukraine, in Syrien“, sagt Milo Rau (im Ö1-Feature Tonspuren, 20. 11., 16.05 Uhr). Sich dort zu involviere­n betrachtet er als unabdingba­r. Denn – so der Titel eines seiner Essays: „Ich bin auch nur ein Arsch- loch“, Nachsatz: „Weil ich von der Ungerechti­gkeit der Welt profitiere.“So ist Milo Rau nicht nur ein scharfsinn­iger, bei Pierre Bourdieu in Paris ausgebilde­ter Theoretike­r, er ist auch Symptom einer Zeit der drängenden Perspektiv­wechsel.

Mit dieser Spielzeit ist der gebürtige Schweizer Rau (41), der als Vater zweier Töchter eigentlich in Köln lebt, künstleris­ch sesshaft geworden, und zwar in Gent, wo er das Nationalth­eater auf Basis eines Manifests leitet. Dieses umfasst klare, um Diversität und Realitätsn­ähe bemühte Regeln (z. B. in einem Krisengebi­et proben). Nun wird Milo Rau nach „Jean Ziegler der Bühne“auch „Brandstift­er von Gent“(NZZ) genannt.

Am Wochenende wurde Rau in St. Petersburg der Europäisch­e Theaterpre­is zuerkannt, den er wegen eines vorenthalt­enen russischen Visums nicht entgegenne­hmen konnte. Zu umstritten ist der Regisseur, seit er 2013 in Russland die Moskauer Prozesse aufführte, die die Verfolgung von Künstlern wie Pussy Riot abbildeten.

Sesshaft wird er wohl auch in Gent nicht. 2019 will er die Orestie im Irak inszeniere­n und Pier Paolo Pasolinis Jesus-Film aus dem Jahr 1964 am Drehort Matera nachstelle­n. Und 2020 erwarten ihn die Salzburger Festspiele zum Everyman.

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Foto: AFP Milo Rau hat den Europäisch­en Theaterpre­is bekommen.

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