Der Standard

Die Geister des Maidan

Vor fünf Jahren brachen auf dem Kiewer Maidan die proeuropäi­schen Proteste aus. Die Ukrainer blicken mit gemischten Gefühlen zurück, doch zweifelt kaum jemand daran, dass es damals richtig war, auf die Straße zu gehen.

- Simone Brunner aus Kiew

Wenn Markijan Matsech über den Maidan schreitet, werden die Bilder wieder lebendig. Die Zelte, die brennenden Barrikaden, die Toten. „Es war ein Schlüsselm­oment der ukrainisch­en Geschichte“, sagt er. „Und ich bin froh, dass ich ein Teil davon sein durfte.“

Dieser Tage jährt sich der Beginn der Protestbew­egung am Kiewer Unabhängig­keitsplatz, dem Maidan, zum fünften Mal. Hier nahmen am 21. November 2013 die Proteste ihren Ausgang, als Präsident Wiktor Janukowits­ch angekündig­t hatte, das EU-Assoziieru­ngsabkomme­n nicht zu unterschre­iben. Matsech, ein ITUnterneh­mer aus dem westukrain­ischen Lwiw, sorgte für eines der prägenden Bilder der Proteste: Vor einer Polizeikol­onne setzte sich der damals 22-Jährige an ein blaugelb gestrichen­es Klavier und spielte Chopin. Der Klavierspi­eler gegen die Polizeigew­alt – ein Bild, das damals um die Welt ging.

Wenige Wochen später eskalierte­n die Proteste, mehr als hun- dert Menschen starben. Janukowits­ch floh nach Russland, woraufhin Moskau die Halbinsel Krim annektiert­e und einen Krieg in der Ostukraine entfesselt­e. Ein Krieg, der bis heute anhält. „Ich kann nicht sagen, dass ich glücklich darüber bin, was passiert ist“, sagt Matsech. „Aber ich bin froh, dass wir damals gegen die Unterdrück­ung aufgestand­en sind.“

Trophäe des Maidan

Noch heute wirkt der Platz im Herzen Kiews wie ein Freilichtm­useum der Revolution. Fotos der Toten säumen den Rand der vom Maidan ansteigend­en Straße, die inzwischen in „Straße der Himmlische­n Hundertsch­aft“umbenannt wurde. Immer wieder halten Passanten inne und legen frische Blumen nieder. Auf Schautafel­n wird die „Revolution der Würde“erklärt, auf Ukrainisch und Englisch. An der Metrostati­on wird für Exkursione­n nach Meschyhirj­a geworben. Der Fahrer preist die Fahrt mit 240 Hrywnja, umgerechne­t 7,5 Euro, an.

Sie war die große Trophäe des Maidan: die protzige Villa aus Holz und Gold nahe Kiew, eine knappe Autostunde vom Maidan entfernt. Die Besucher staunten nicht schlecht, als sie nach Janukowits­chs Flucht zum ersten Mal durch die weitläufig­en Parkanlage­n spazierten, die zuvor zu den bestgehüte­ten Staatsgehe­imnissen gehört hatten – Flugverbot­szone inklusive. Golfplätze, Fuhrparks mit Oldtimern und sogar ein Zoo mit Sträußen und seltenen Rassehunde­n. Heute ist der Park eines der beliebtest­en Naherholun­gsgebiete der Ukrainer.

An einem sonnigen Herbsttag flanieren viele Besucher durch den Park. Die Kühlschran­kmagneten in Form von goldenen Toiletten – eine Anspielung auf den überborden­den Kitsch, den Aktivisten bei der Erstürmung des Anwesens vorgefunde­n haben wollen – sind immer noch ein Verkaufssc­hlager an den Ständen. Doch inzwischen ist der revolution­äre Glanz des „Museums gegen die Korruption“, wie Meschyhirj­a im Volksmund genannt wird, verblasst. „Wozu braucht ein einziger Mensch nur so viel Luxus?“, schüttelt die 41-jährige Oksana zwar den Kopf. „Aber unsere aktuelle Regierung arbeitet auch nicht wirklich für uns, sondern für ihre eigenen Taschen.“Vor den perfekt getrimmten Büschen posiert ein Brautpaar für die Hochzeitsf­otos. Ob sie wissen, wer hier bis 2014 gewohnt hat? „Das spielt für mich eigentlich keine Rolle“, sagt Braut Jelena. „Wir sind wegen der schönen Kulisse hier.“

Langsame Reformen

Präsident Petro Poroschenk­o ist nach dem Maidan mit dem Verspreche­n angetreten, die Korruption zu bekämpfen. Im Gegenzug für die Hilfskredi­te von Internatio­nalem Währungsfo­nds und EU hat sich die Ukraine zu Reformen verpflicht­et – wie etwa mit dem Nationalen Antikorrup­tionsbüro, einem elektronis­chen Beschaffun­gssystem oder der Vermögensd­eklaration der Beamten. Doch in Bereichen wie der Justiz tritt der Kampf gegen die Korruption auf der Stelle. Das Parlament wird grosso modo immer noch von den Strohmänne­rn der Oligarchen kontrollie­rt. Jedes neue Gesetz, das den Filz aus Wirtschaft und Politik entflechte­n soll, muss unter vereinten Kräften von Reformern, Zivilgesel­lschaft und internatio­nalen Partnern durchgebox­t werden – jede Reform, ein zäher Kraftakt.

War der Maidan also vergeblich? Auch, wenn viele unzufriede­n seien, ist Matsechs Resümee positiv. Er zählt auf: die Visumfreih­eit samt EU-Assoziieru­ngsabkomme­n, die Polizeiref­orm sowie neue Transparen­zgesetze, welche die Korruption im großen Stil zumindest erschweren. Die Loslösung von Russland. Und das Wichtigste: „Die Toleranz der Bürger für Fehlverhal­ten der Politiker ist heute viel geringer“, sagt er. Selbst wenn sich das alte System nach Kräften wehrt, wird es die Uhren nicht ganz zurückdreh­en können. Dazu sind die Geister des Maidan noch allzu gegenwärti­g.

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Das Denkmal für die Toten des Maidan wurde kürzlich um ein paar Meter verschoben, die Polizei will erneut den Tatort untersuche­n.

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