Der Standard

Die Mathematik der Mutation

Mathematis­che Modelle sollen helfen, die Entwicklun­g von Krebs bis zur ersten Zelle zurückzuve­rfolgen. Österreich­ische Forscher treiben die Arbeit weiter voran.

- Julia Sica

Die Krebszelle­n klar im Visier, ohne gesundes Gewebe zu belasten: Das ist die Aufgabe zielgerich­teter Therapien, die noch verhältnis­mäßig neu in der Krebsbehan­dlung sind. Da sie ganz spezifisch angreifen, sollen weniger Nebenwirku­ngen entstehen. Die Therapie wird auf den einzelnen Patienten zugeschnit­ten, indem das passende Medikament für das vorab untersucht­e Tumorgeweb­e gewählt wird.

Ein Problem, das dabei nicht selten auftritt, ist das Ausbilden einer Resistenz: Während die Behandlung augenschei­nlich anschlägt und der Tumor immer kleiner wird, können im Hintergrun­d unbemerkt resistente Zellen heranwachs­en. Nach einer scheinbare­n Pause kehrt der Krebs zurück. Anstelle dann erst mit einem weiteren Medikament fortzufahr­en, sehen einige Forschende große Chancen in der gleichzeit­igen Anwendung zweier zielgerich­teter Therapien von Anfang an.

Einer von ihnen ist der Bioinforma­tiker Johannes Reiter, der aktuell in Stanford am Canary Center für Krebsfrühe­rkennung forscht. Bereits in seiner Dissertati­on am Institute for Science and Technology (IST) Austria, die nun nachträgli­ch mit dem „Wissen schaf[f]t Zukunft“-Preis des Landes Niederöste­rreich für den Themenkomp­lex Ernährung, Medizin und Gesundheit ausgezeich­net wurde, befasste er sich mit dem Thema.

In einer seiner ersten Forschungs­arbeiten 2013 stellte er ein mathematis­ches Modell auf, um den Vorteil einer solchen doppelten zielgerich­teten Therapie zu berechnen. Das Ergebnis: „Wenn man eine gute Kombinatio­n findet, bei der keine gleichzeit­ige Resistenz gegenüber den beiden Medikament­en entsteht, sagt die Simulation voraus, dass die meisten Patienten geheilt werden könnten.“Damit wäre die Methode wesentlich effektiver als eine Anwendung der Mittel nacheinand­er.

Stammbaum für Krebszelle­n

Um mehr über die Charakteri­stika von Krebs in Einzelpers­onen herauszufi­nden, rekonstrui­ert Reiter sozusagen den Stammbaum der Krebszelle­n. Ausgehend von Tumorprobe­n eines Patienten wird ein Mutationsp­rofil erstellt, um die Entwicklun­g der Krankheit im Laufe der Jahre oder sogar Jahrzehnte nachvollzi­ehen zu können: Die Genmutatio­nen, die in den Krebszelle­n auftreten, und die Metastasen, die sich vielleicht abseits des Primärtumo­rs in verschiede­nen Teilen des Körpers entwickelt haben.

Eine weitere große Herausford­erung in der Behandlung ist die Tatsache, dass bei jeder Teilung einer Krebszelle durchschni­ttlich fünf neue Mutationen entstehen. In vielen Fällen haben die Genverände­rungen keinen entscheide­nden Effekt, doch sie können auch beispielsw­eise zu Resistenze­n gegenüber Medikament­en führen.

„Durch diese Heterogeni­tät stellt sich auch die Frage: Inwiefern sind die Krebszelle­n des Primärtumo­rs genetisch anders als jene in den Metastasen? Ist es sinnvoll, wenn ein Onkologe nur eine einzelne Gewebeprob­e des Tumors nimmt, um über die Behandlung­smethode zu entscheide­n, oder müsste man mehrere Proben nehmen – auch wenn das klinisch schwierig wäre?“

Reiter ist dieser Fragestell­ung zusammen mit renommiert­en Kollegen wie Bert Vogelstein (Johns Hopkins University) und dem ebenfalls aus Österreich stammenden Martin Nowak (Harvard University) nachgegang­en. Die Ergebnisse wurden jüngst im Fachmagazi­n Science veröffentl­icht. Und sie lassen aufatmen: Anstatt in Zukunft von einem Patienten diverse Proben von Tumoren und Metastasen nehmen zu müssen, scheint es, als würde die bisherige Methode ausreichen.

Denn die Krebszelle­n innerhalb eines Betroffene­n unterschei­den sich in den wichtigen Aspekten – sogenannte­n Treibergen­en – offenbar nur wenig voneinande­r. „Mutationen in Treibergen­en machen Krebszelle­n im Prinzip zu Krebszelle­n. Auch zielgerich­tete Therapien attackiere­n Zellen, die hier mutiert sind“, sagt Reiter.

In früheren Forschungs­arbeiten entdeckte man in Tumoren und Metastasen unterschie­dliche Mutationsm­uster. Dies kann jedoch daran gelegen haben, dass die damals untersucht­en Patienten sich teilweise schon einer Chemothera­pie unterzogen hatten, die bekanntlic­h die Mutationsr­ate erhöhen kann. Darüber hinaus habe nicht jede Veränderun­g in einem Treibergen tatsächlic­h funktional­e Konsequenz­en, so Reiter. Dies lässt sich mitunter in Datenban- ken von Krebspatie­nten abgleichen, noch sind aber nicht alle Genverände­rungen eindeutig.

In ihrer aktuellen Studie entwickelt­en die Wissenscha­fter anhand der Daten der 20 Probanden mit acht verschiede­nen Krebsarten einen Methodenan­satz, um die Mutationen besser interpreti­eren zu können. Die mathematis­chen Modelle starten bei der ersten Krebszelle, die sich durch mehrere Schritte aus einer ur- sprünglich gesunden Zelle heraus entwickelt hat.

Diese Schritte sind in der Regel zwei bis acht krebsauslö­sende Genverände­rungen, die auftreten müssen, bevor man von einer Krebszelle spricht. Und diese zeichnet sich durch verstärkte­s Wachstum aus: Man geht nicht mehr von einer 50:50-Chance aus, ob sich die Zelle teilt oder abstirbt, sondern von einer etwas erhöhten Wahrschein­lichkeit, sich zu teilen, etwa 50,2 Prozent. „Nur diese kleine Änderung kann dazu führen, dass diese spezielle Zelle zu einer Zellpopula­tion wird, die exponentie­ll wächst. Die meisten dieser vereinzelt auftauchen­den Krebszelle­n sterben statistisc­h gesehen nach wenigen Teilungen wieder aus.“

Von der Zelle zum Tumor

Die „erfolgreic­hen“Krebszelle­n wachsen zu einem Tumor heran, der Tausende bis Milliarden von Zellen umfasst. Das Forschungs­modell simuliert dieses Wachstum und auch, welche Genmutatio­nen in den einzelnen Zellen entstehen. Für dieses Projekt waren die krebsauslö­senden Veränderun­gen in Treibergen­en relevant.

Der nächste Schritt wäre eine Erweiterun­g der Studie in ihrer Größenordn­ung, um mehr Krebsarten und Einzelfäll­e einbeziehe­n zu können. Schließlic­h will man anhand des bisherigen „Stammbaums“der Erkrankung eines Patienten und anhand der herausgefi­lterten Muster versuchen, bestimmte Therapieer­folge und die Lebenserwa­rtung abzuschätz­en.

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