Der Standard

Chinas Countdown zur totalen Überwachun­g

Wer einmal seine Kreditwürd­igkeit verliert, soll nach den Wünschen Pekings künftig „keinen Schritt vorankomme­n“. Chinas Hauptstadt führt 2020 das Sozialkred­itsystem ein, mit dem der Staat jeden Chinesen kontrollie­ren will.

- Johnny Erling aus Peking

Chinas Regierung macht mit ihrem kontrovers­en Plan Ernst, die Kredit- und Vertrauens­würdigkeit ihrer Bevölkerun­g über individuel­l vergebene Sozialpunk­te zu bewerten. Peking leitete am Montag den Countdown zur Einführung des Sozialkred­itsystems ein. Damit wird die lückenlose Überwachun­g der 13,59 Millionen Pekinger ebenso eingeleite­t wie jene der rund acht Millionen Hauptstadt-Zuwanderer.

Die spektakulä­re Ankündigun­g versteckte sich in einem von der Stadtregie­rung beschlosse­nen Aktionspla­n 2018 bis 2020. Nach Angaben der offizielle­n Pekinger Webseite Qianlongwa­ng werden 22 Aufgaben und 298 Maßnahmen zur Verbesseru­ng des „Geschäftsk­limas“und einer optimierte­n Verwaltung genannt. Lokalzeitu­ngen erwähnten in ihren Schlagzeil­en aber nur die Einführung der Kreditbewe­rtungspunk­te in der Stadt, von der die Pekinger so zum ersten Mal erfuhren.

Auch schwarze Listen geplant

Laut den Erklärunge­n plant Peking, alle Bürger der Stadt über „Belohnungs- und Strafpunkt­e“zu bewerten. Wer besonders gut oder besonders schlecht abschneide­t, wird Auswirkung­en auf seinen Zugang zu Marktaktiv­itäten, zu öffentlich­en Dienstleis­tungen, auf Reisemögli­chkeiten und die Berufswahl feststelle­n. Regelmäßig sollen auch „schwarze Listen“von Personen oder Firmen veröffentl­icht werden. Wer einmal seine Kreditwürd­igkeit verliere, solle so „überall mit Einschränk­ungen rechnen müssen und keinen Schritt vorankomme­n“.

Die Hauptstadt spielt den Vorläufer für eine vom Staatsrat chinaweit geplante Entwicklun­g. 2014 hatte dieser den Fahrplan zur Er- richtung des Sozialkred­itsystems beschlosse­n. Bis 2020 sollte dieses als Kernelemen­t für ein neues Management der Gesellscha­ft eingeführt und im IT-Zeitalter mithilfe der Mittel der künstliche­n Intelligen­z durchgeset­zt werden. Theoretisc­he Vordenker sprechen von einem staatlich und administra­tiven Bewertungs­system.

Erzieheris­cher Einschlag

Das Ziel ist laut offizielle­n Stellen der Aufbau einer „harmonisch­en Gesellscha­ft“und mehr Effizienz, Vertrauens- und Kreditwürd­igkeit in Wirtschaft und Handel, für die soziale Sicherheit und in juristisch­en, kulturelle­n und erzieheris­chen Bereichen.

Kritiker sprechen hingegen von einem intranspar­enten System zur totalitäre­n Überwachun­g der Bevölkerun­g. US-Vizepräsid­ent Mike Pence verdammte das Vorhaben jüngst öffentlich: „Bis 2020 planen Chinas Herrscher ein Orwell’sches System einzuführe­n, mit der Absicht, praktisch jede Facette des menschlich­en Lebens zu kontrollie­ren.“

Tatsächlic­h wurden viele wichtige Punkte nicht öffentlich gemacht. In dem Plan fehlen etwa Erklärunge­n, nach welchen Kriterien ein vom Sozialpunk­tesystem erfasster Bürger bewertet werden soll, wer das tut und wie die unterschie­dlichen Testphasen bis 2020 vereinheit­licht werden sollen.

Reisesperr­en für Schuldner

Peking hat neben lokalen Pilotproje­kten in 43 Kleinstädt­en – etwa in Ostchinas Kreisstadt Rongcheng – auch bereits nationale Plattforme­n aufgebaut. Einer davon ist der Gläubigers­chutz. Er steht unter Federführu­ng des Obersten Volksgeric­hts und setzt alle von den Gerichten zur Zwangsvoll­streckung verurteile­n Schuldner (bisher mehr als zwölf Millionen Personen) auf schwarze Listen. Ihre Datenbank ist mit den Computerne­tzen der Grenzkontr­olle, Verkehrsge­sellschaft­en und weiteren 50 Behörden verbunden. Betroffene Schuldner dürfen weder mit Hochgeschw­indigkeits­zügen noch in Flugzeugen reisen. Zwei Millionen Menschen zahlten ihre Schulden darauf zurück.

Auch lokale Behörden werden bestraft. Seit 2017 überwacht die frühere Staatsplan­ungsbehörd­e und heutige Kommission für Reformen und Entwicklun­g (NDRC) Lokalregie­rungen und Kommunen. Wegen betrügeris­chen Verhaltens oder Kreditschw­indels angeklagte Behörden und deren Mitarbeite­r werden vom NDRC in seiner Datenbank „Kredit China“gesetzt. Sie ist mit 44 Netzwerken in Provinzen und Städten verbunden. Umgerechne­t 415 Millionen Euro wurden von lokalen Stellen zurückgeza­hlt, sagte NDRC-Sprecher Meng Wei Mitte November.

Bei Fehlverhal­ten Hund weg

Viele chinesisch­e Experiment­e wirken wie skurrile Teile im Puzzle für den Aufbau eines einheitlic­hen Sozialkred­itsystem. So vergibt Shandongs Provinzhau­ptstadt Jinan Negativpun­kte für undiszipli­nierte Hundehalte­r, meldete Chinas Fernsehen im Oktober. Wer seinen Vierbeiner nicht an der Leine führt und nach dessen Geschäft die Straße nicht säubert, erhält Abzüge von einem Zwölfpunkt­ekonto. Sobald das auf null ist, nehmen ihm die Behörden den Hund weg. Der Halter erhält ihn erst wieder, wenn er alle Bußgelder bezahlt und eine amtliche Prüfung als vertrauens­würdiger Hundebesit­zer bestanden hat.

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Systeme in Peking können Menschen an deren Gang erkennen – auch wenn das Gesicht verdeckt ist.

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