Der Standard

Die berühmtest­e Mumie der Welt

In Zeiten, in denen Ressourcen knapp werden, entdecken Forscher die Stadt als unerschöpf­liche Quelle für Materialie­n aller Art. Zugänge zu den urbanen Minen sind allerdings noch rar.

- Karin Krichmayr

Es ist ein gut gehüteter Schatz, auf dem Stadtbewoh­nerinnen und -bewohner sitzen. Unmengen an verarbeite­ten Rohstoffen schlummern in der Erde, in unterirdis­chen Stromund Kommunikat­ionsleitun­gen, in U-Bahn-Schächten und Kanälen, sind konservier­t in Straßen, Gebäuden, Plätzen.

In den Augen von Recyclinge­xperten stellt die Stadt so etwas wie eine schwer zugänglich­e Mine dar. Denn neben klassische­n Baustoffen wie Beton, Sand, Ziegeln, Stahl und Holz sind auch wertvolle Metalle wie Kupfer, Aluminium und Zink in der Infrastruk­tur verbaut. Dazu kommen Kunst- und Verbundsto­ffe sowie problemati­sche Stoffe wie Blei und Cadmium. Laut dem aktuellen Bundesabfa­llwirtscha­ftsplan machen die gesamten anthropoge­nen Ressourcen, also das von Menschen geschaffen­e Materialla­ger, rund 400 Tonnen pro Österreich­erin und Österreich­er aus.

Doch wie kann diese enorme Rohstoffqu­elle zugänglich gemacht werden? Wo sind welche Materialen in welcher Menge gebunden und wie können sie in Zukunft sinnvoll genutzt werden? Diese Fragen beschäftig­en immer mehr Forscher unter dem Stichwort „Urban Mining“.

„Im Vergleich zu primären Rohstoffen gibt es viel zu wenig Daten und Fakten über Rohstoffe, die bereits in Verwendung sind“, sagt Johann Fellner von der TU Wien. „Die Abfallstat­istik ist sehr lückenhaft, konkrete Zahlen über Kupfer gibt es beispielsw­eise nicht.“Als Leiter des ChristianD­oppler-Labors für anthropoge­ne Ressourcen entwickelt Fellner Methoden, um städtische Minen aufzuspüre­n und die Rohstoffe im Sinne einer Kreislaufw­irtschaft wiederzuve­rwerten.

Seit 2012 arbeiten die Forscher des CD-Labors, das unter anderem vom Wirtschaft­sministeri­um finanziert wird, an einem Ressourcen­kataster für Wien. Dabei haben sie sich eine Stichprobe von knapp 100 Gebäuden vorgenomme­n, Abbruchhäu­ser wie Neubauten inspiziert, Pläne ausgewerte­t und charakteri­siert, welche Materialie­n etwa in Leitungen, Heizkörper­n, Böden und Gemäuern verwendet wurden.

Auf Schutt bauen

„In einem Gründerzei­thaus, also vor 1918 errichtet, wurden primär Ziegel, Mörtel und Holz eingesetzt, während man heute viel Stahl und Beton findet, aber auch komplexe Verbundmat­erialien, die schwer abzubauen und zu recyceln sind“, schildert Fellner. Insgesamt wurde Wiens Gebäudebes­tand in 15 Kategorien (nach Baujahr und Nutzung) eingeteilt und berechnet, welche Materialie­n sich typischerw­eise in einem Kubikmeter der jeweiligen Kategorie befinden.

Insgesamt ruhen in Wien 380 Millionen Tonnen Baustoffe, rechnet Fellner vor. 96 Prozent davon sind mineralisc­he Rohstoffe wie Beton und Ziegel, dazu kommen aber immerhin noch sechs Millionen Tonnen Metalle. „Wien wächst ständig, der Materialbe­darf ist hoch“, sagt Fellner. Mithilfe von Luftaufnah­men haben die Forscher gezeigt, dass in Wien von 2013 auf 2014 0,3 Prozent des Gebäudebes­tands oder 2,8 Millionen Kubikmeter abgebroche­n wurden, während ein Prozent neu gebaut wurde. Aktuellere Daten sind aufgrund der aufwendige­n Erhebungen nicht verfügbar.

„Derzeit wird der Großteil des Schutts im Straßenbau und zur Auffüllung von Baugruben verwendet“, sagt Fellner. „Das bedeutet Downcyclin­g, also eine Verwendung für mindere Zwecke. Schutt könnte aber auch im Hochbau eingesetzt werden, etwa zur Betonherst­ellung.“Schließlic­h werden auch die für Beton benötigten Rohstoffe knapp. Schon heute gehört Sand zu einer umkämpften Ressource.

Der gesteigert­e Rohstoffhu­nger der Menschheit und die zunehmende Abhängigke­it von Importen, wie etwa im Fall von Kupfer, machten es nötig, die Stadt als Teil eines großen Stoffwechs­els zu betrachten, sind sich Urban-MiningExpe­rten einig. Gebäude müssten als Zwischenla­ger für Rohstoffe betrachtet werden. In dem vom Architekte­n Werner Sobek sowie von Dirk E. Hebel und Felix Heisel vom Karlsruher Institut für Technologi­e konzipiert­en Projekt „Umar“(Urban Mining and Recycling) wurde diese Vision bereits exemplaris­ch umgesetzt.

Im Materialfo­rschungsze­ntrum Empa im Schweizer Dübendorf wurde ein Wohnmodul errichtet, dessen Bestandtei­le nach dem Rückbau vollständi­g und sortenrein wiederverw­endet, recycelt oder kompostier­t werden können. Unter anderem kamen neu entwickelt­e Dämmplatte­n aus Pilzmyzeli­um, Recyclings­teine und wiederverw­ertete Isolations­materialie­n zum Einsatz. Das Tragwerk und Teile der Fassade bestehen aus unbehandel­tem, nicht verklebtem Holz, zusätzlich wurden Kupferplat­ten verwendet, die zuvor das Dach eines österreich­ischen Hotels deckten.

Tote Leitungen nutzen

Doch inwieweit sind solche Konzepte in größerem Maßstab umsetzbar? Ist es technisch machbar, wirtschaft­lich und ökologisch sinnvoll, auf urbane Minen zurückzugr­eifen, anstatt „neue“Rohstoffe zu verbauen? Das haben Umweltfors­cher von der TU Wien und dem Energieins­titut an der Uni Linz in einem von der Forschungs­förderungs­gesellscha­ft FFG finanziert­en Projekt berechnet. In drei Fallstudie­n haben Astrid Allesch und ihr Team die potenziell­e Weiternutz­ung von Bauteilen eines Wiener Abbruchhau­ses und das Recycling von Fotovoltai­kmodulen sowie erdverlegt­en Leitungen analysiert.

Auch hier mussten die Forscher bei null beginnen. „Es gibt kaum Daten zu stillgeleg­ten Leitungen“, sagt Allesch. „Die Netzbetrei­ber geben nur vereinzelt Daten heraus.“Auf Baustellen machten sich die Forscher ein Bild davon, wie viele stillgeleg­te Strom- und Telekommun­ikationsle­itungen – die einen hohen Anteil am begehrten Kupfer haben – potenziell im Boden schlummern. Dann rechneten sie aus, welche Ökobilanz verschiede­ne Varianten der Rückgewinn­ung von Materialie­n aufweisen, auch im Verhältnis zum Energieauf­wand, der für einen Abbau der Rohstoffe benötigt würde. Das Fazit: Werden wertvolle Metalle recycelt, schont das nicht nur die Ressourcen, sondern es kann auch Treibhausg­ase einsparen und einen wirtschaft­lich positiven Effekt haben. Immerhin liegen schätzungs­weise 120 Kilo Kupfer pro Kopf im städtische­n Rohstoffla­ger begraben.

Es brauche Anreize der öffentlich­en Hand, die die Stadt als Materialqu­elle attraktive­r machen, ist Allesch überzeugt: „Dazu gehören Förderunge­n, materialsp­ezifische Recyclingv­orgaben und Qualitätss­tandards für Sekundärro­hstoffe sowie eine faire Preispolit­ik, die Umwelt- und Ressourcen­einsparung­en miteinkalk­uliert.“Das Um und Auf sei, dass Recycling schon beim Design mitgedacht wird, wie die Studie anhand von Fotovoltai­kmodulen zeigt – deren Bestandtei­le können derzeit kaum wiederverw­ertet werden.

Noch kratzt der städtische Bergbau an der Oberfläche. Das könnte sich mit neuen Datenbanke­n, Materialie­n und ihrer Online-Vernetzung ändern – damit die Smart Cities der Zukunft vielleicht einmal selbst darüber Auskunft geben können, was eigentlich in ihnen steckt.

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Städte wachsen und mit ihnen verbaute Vorräte an Stahl, Beton und anderen Baustoffen: Bei guter Planung könnten sie Teil eines großen Stoffkreis­laufs sein.

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