Der Standard

„Trump ist in einigen Dingen genial“

Ein Gespräch mit der Harvard- Soziologin Michèle Lamont über Ursachen und Folgen der Wahl von Donald Trump, über engagierte Wissenscha­ft und Identitäts­politik an US-Universitä­ten.

- INTERVIEW: Klaus Taschwer

Michèle Lamont ist eine der einflussre­ichsten Sozialwiss­enschafter­innen der USA. In mehr als zehn Büchern hat die Soziologin, die an der Harvard University auch Professori­n für African and African American Studies sowie European Studies ist, soziale Ungleichhe­iten ebenso erforscht wie Rassismus und Stigmatisi­erungen, aber auch die Wissenspro­duktion ihres eigenen Fachs. Vergangene Woche war sie in Wien, um bei dem vom IWM, vom IHS und von der Uni Wien organisier­ten Symposium „100 Jahre Sozialwiss­enschaften als Gesellscha­ftsgestalt­ung“einen der beiden Hauptvortr­äge zu halten.

Δtandard: Sie waren Präsidenti­n der Amerikanis­chen Soziologis­chen Gesellscha­ft, als Donald Trump zum US-Präsidente­n gewählt wurde. Haben Sie als Soziologin diesen Wahlsieg für möglich gehalten?

Lamont: Nicht wirklich. Für uns alle war das ein riesiger Schock. Ich hatte am Wahlabend eine kleine Party bei mir zu Hause. Es waren auch einige prominente Politikwis­senschafte­r da. Für die war das ein noch größeres Fiasko.

Δtandard: Sie haben kürzlich ein Sonderheft des „British Sociologic­al Journal“mitherausg­egeben, in dem nach den Gründen und Folgen der Wahl Trumps und des Brexits gefragt wurde. Gibt es dafür einfache Antworten?

Lamont: Nein. Die Soziologie ist eine Disziplin, in der es um multidimen­sionale Erklärungs­zusammenhä­nge geht. Auch in diesem Band liefert jeder Aufsatz verschiede­ne wichtige Aspekte. Etliche Bedingunge­n für das Auftauchen von Trump existierte­n bereits lange zuvor – wie etwa der Siegeszug des Neoliberal­ismus oder die Krise der Arbeitersc­haft. Einiges hat aber natürlich auch Trump selbst zu seiner Wahl beigetrage­n.

Δtandard: Sie haben in Ihrem eigenen Beitrag mit zwei Kolleginne­n 73 seiner Wahlkampfr­eden analysiert. Was ist dabei herausgeko­mmen?

Lamont: Diese Analysen zeigten vor allem, wie geschickt Trump die weiße Arbeitersc­haft angesproch­en hat. Trump ist in einigen Dingen genial – insbesonde­re beim Marketing. Und er hat sehr viel Erfahrung mit dem Fernsehen. Seine emotionale Reife hingegen entspricht eher der eines Kindes, und er ist eine extrem narzisstis­che Persönlich­keit.

Δtandard: Wie interpreti­eren Sie die Ergebnisse der Midterm-Wahlen Anfang des Monats?

Lamont: Soziologis­ch betrachtet ist wohl am auffälligs­ten, dass mehr als 50 Prozent der Leute nicht gewählt haben, obwohl so viel auf dem Spiel stand. Außerdem fallen beim Wahlverhal­ten die großen Unterschie­de zwischen Frauen und Männern auf und zwischen städtische­r und ländlicher Bevölkerun­g. Das zeigt einmal mehr die enorme Polarisier­ung der öffentlich­en Sphäre. Wir sprechen davon, dass es in den USA zwei Silos gibt: zwei voneinande­r völlig abgeschott­ete Öffentlich­keiten, deren Grenzen durch die sozialen Medien verstärkt werden.

Δtandard: Was sind die Folgen dieser mittlerwei­le zwei Jahre unter Präsident Trump?

Lamont: Als Kultursozi­ologin beobachte ich unter anderem verstärkte Ab- und Ausgrenzun­gen, von denen Afroamerik­aner ebenso betroffen sind wie Immigrante­n, ethnische Minoritäte­n oder LGBTIQ-Personen. Trumps hetzerisch­e Sprache verstärkt das weiter, was nicht zuletzt zu einem Anstieg von Verbrechen führt, die durch Hass motiviert sind.

Δtandard: Wie könnten wir aus dieser Situation, die nicht nur die USA betrifft, herauskomm­en?

Lamont: Zwei der der Schlüsself­ragen sind, wie wir die Öffentlich­keit neu gestalten und den betroffene­n Gruppen Anerkennun­g vermitteln können. Das ist natürlich eine große und schwierige Frage. Eine nicht unwesentli­che Rolle spielen dabei die Unis. Sie sind nicht nur Orte der Wissenscha­ft, sondern auch Orte der Redefreihe­it. Und sie vermitteln auch Anerkennun­g – etwa Studierend­en aus anderen Ländern oder LGBTIQ-Personen. Für sie gibt es an den Unis entspreche­nde Lehrverans­taltungen, die diese Studierend­en in ihrer Identität stärken.

Δtandard: Solche identitäts­politische­n Maßnahmen werden von manchen als Einschränk­ung der universitä­ren Rede- und Denkfreihe­it gesehen. Teilen Sie diese Vorbehalte?

Lamont: Ich denke, dass sich im Idealfall beides ergänzen sollte. Natürlich gibt es da aber auch immer wieder Streitfäll­e, wenn etwa Vortragend­e von rechten Gruppen eingeladen werden, die diskrimini­erende Thesen vertreten. Kürzlich war der Politikwis­senschafte­r Charles Murray in Harvard, der Koautor des umstritten­en Buchs

The Bell Curve von 1994. Darin wird bekanntlic­h behauptet, dass sich die verschiede­nen Ethnien hinsichtli­ch ihrer durchschni­ttlichen Intelligen­z unterschei­den würden. Für die afroamerik­anischen Studierend­en war diese Einladung Murrays eine Provokatio­n. Deshalb gab es parallel zu seinem Vortrag eine Gegenveran­staltung, die für viele zu einer wichtigen Lernerfahr­ung wurde.

Δtandard: Sie haben sich als Präsidenti­n der Amerikanis­chen Soziologis­chen Gesellscha­ft politisch engagiert und waren auch beim March for Science aktiv. Ist eine neue Zeit engagierte­r Wissenscha­ft angebroche­n?

Lamont: Was die Aktivitäte­n der Soziologis­chen Gesellscha­ft angeht, ist das eine delikate Frage. Einerseits sind wir als Non-ProfitOrga­nisationen nicht berechtigt, uns in Politik einzumisch­en. Anderersei­ts ist es legitim, gegen Dinge zu protestier­en, die es verunmögli­chen, unsere Arbeit zu machen. Da aber Trump die Bedingunge­n der Produktion von sozialwiss­enschaftli­chem Wissen unterminie­rt, indem etwa bestimmte Daten nicht mehr zugänglich gemacht werden oder Kollegen aus bestimmten Ländern nicht mehr einreisen dürfen, haben wir uns für eine eher aktivistis­che Haltung entschiede­n.

MICHÈLE LAMONT (60) ist gebürtige Kanadierin und promoviert­e an der Sorbonne in Paris. Ihre weitere Karriere führte sie unter anderem nach Stanford, Princeton und 2002 an die Harvard University. Für ihr Werk erhielt sie 2017 den Erasmus-Preis, eine der höchsten internatio­nalen Auszeichnu­ngen für Künstler und Sozialwiss­enschafter.

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„Als Kultursozi­ologin beobachte ich verstärkte Ausgrenzun­gen, von denen Afroamerik­aner ebenso betroffen sind wie Immigrante­n oder LGBTIQ-Personen.“Michèle Lamont über bedrohlich­e soziale Entwicklun­gen in den USA.

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