Der Standard

Vom Menschen- zum Reisauflau­f

Sogar Großdenker wie Peter Sloterdijk verabschie­den sich von der Idee einer geduldigen, systematis­chen Aneignung der Welt. Höchste Zeit, sich an famose Stegreifre­dner wie den Spontanphi­losophen Anton Kuh zu erinnern.

- Ronald Pohl

Gerade solche Denker, die ihr Wissen gewohnheit­smäßig mit einer Vielzahl von Lesern und Hörern teilen, halten nicht durchwegs das Niveau ihrer Höhenflüge. Diese Einsicht kann sogar erhabene Geister mit Lähmungser­scheinunge­n plagen. Philosoph Peter Sloterdijk, bis 2017 an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe lehrend, bildet unter solchen potenziell depressiv Gestimmten keine Ausnahme. Im neuen Band von Sloterdijk­s gesammelte­n Tagebuchno­tizen findet sich – mit Blick auf die eigenen Möglichkei­ten – ein entspreche­nd skeptische­r Eintrag. Sloterdijk pendelt 2011 intensiv zwischen Wien und Karlsruhe hin und her. Sich selbst porträtier­t der Denker als einen, dessen restliche Lebenszeit mit wesentlich­en Verzichtsl­eistungen einhergeht.

Er lebe „am Rand“seiner Bibliothek, notiert Sloterdijk unter „22. Mai“. Er könne lediglich zusehen, „wie die Bestände wachsen“. Das Urteil fällt der Nachfahre des Diogenes über sich gleich selbst: „Viel klüger wirst du nicht werden. Was bisher gesagt werden konnte, ist gesagt, zumeist von anderen.“

So wenig Aufhebens zu machen von sich als denkerisch­er Generalkap­azität, das mutet mit Blick auf den Verfasser alarmieren­d an. Sloterdijk vervollstä­ndigt seiner Kapitulati­onserkläru­ng mit dem Hinweis, was bestenfall­s noch zu erwarten steht: „Hast du ein wenig Glück, wird dich die Muse der Nuance noch hin und wieder küssen.“Und die zahlreiche­n Buchtitel Sloterdijk­s seit dem Bekennt- nisjahr 2011 strafen den Kleinmut Lügen. Gerade ein Denken in Nuancen scheint, der Tendenz nach, schwerlich abschließb­ar zu sein.

Womöglich aber bezeichnet Sloterdijk­s Eingeständ­nis ein tiefer sitzendes Dilemma. Es handelt sich um die Preisgabe des Anspruchs, unsere Welt, die sich unaufhörli­ch verändert, systematis­ch zu erfassen. Was nur noch fluktuiert, kaum gerinnt und in Wutpartike­ln durch das World Wide Web treibt, widersetzt sich jeder Tendenz zur Gestaltwer­dung. Sloterdijk rekapituli­ert, dass seine Raumerkund­ung der Sphären den „vielleicht letzten“Versuch dargestell­t habe, das „absolute Buch zu liefern“. Absolute Bücher sind ein relativer Reinfall geworden. Die Lage verlangt nicht mehr danach, in Kategorien der Absoluthei­t bedacht zu werden.

Akrobatik statt Systematik

An die Stelle der abgedankte­n Systematik­er tritt der Akrobat. Sein Glück verdankt der Hypnotiseu­r der Zuversicht, auch ohne systematis­che Vorbereitu­ng, gleichsam aus dem Nichts, Gedankenbl­itze zünden zu können, die das Leben der Zuhörer verändern.

Die Rede ist vom größten Stegreifde­nker der heimischen Neuzeit, dem Feuilleton­isten, Kaffeehaus­zyniker und Karl-KrausGegne­r Anton Kuh (1890–1951). Der Lebensgesc­hichte dieses Moralisten der Eingebung hat Walter Schübler ein ungemein anregendes Buch gewidmet. Im Kleingedru­ckten des fünften Kapitels („Der Sprechstel­ler“) erhält man Nachhilfe in der Kunst, vor Publikum geistreich zu sein und dennoch unsystemat­isch zu bleiben. In der Figur des reizbaren Kuh erwächst Sloterdijk gleichsam posthum ein grandioser Widersache­r. Aus dem Abstand von 100 Jahren ist es der spontan Vortragend­e (aufgeregt gestikulie­rend, das Monokel im Auge), der jeden Anflug von Verzagthei­t von der Bühne fegt. Kuh erfand den Typus des Vortragend­en als Feuerkopf. Was dieser Athlet der Geisteskra­ft von sich gibt, fliegt ihm zu. Das Hundertste ist ihm wichtig, weil er nur von ihm zum Tausendste­n gelangt.

Kuhs spontanes Schwadroni­eren ist in seiner Textgestal­t kaum überliefer­t. Sein Urheber geißelte die Sexualmora­l anno 1918. Er nahm die Deutschnat­ionalen aufs Korn, und er plagte sich mit den geistigen Aspekten des Judentums in bedrohlich­er Zeit.

Dieser Guerilla ließ kein gutes Haar an einer Republik, deren Wichtigtue­r kaum den „Menschenau­flauf“vom „Reisauflau­f“zu unterschei­den wussten. Worauf dieser Kunstturne­r den allergrößt­en Wert legte: Überzeugun­gen klar zu vertreten, ohne systematis­ch zu werden. Kuh versetzte sich wie jeder Topathlet in Vertikalsp­annung, um in der Sekunde der Entscheidu­ng bei sich zu sein. Sein Credo: „Ich kenne die Argumente meines Nachredner­s nicht, aber ich missbillig­e sie.“Walter Schübler, „Anton Kuh“. Biografie. € 35,90 / 580 Seiten. Wallstein, 2018 Peter Sloterdijk, „Neue Zeilen und Tage“. Notizen 2011–2013. € 28,80 / 540 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2018

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Der Denker des Augenblick­s steht unter Vertikalsp­annung, handelt aber im Wesentlich­en vorurteils­frei und spontan: ein US-Olympionik­e in Rio de Janeiro, 2016, schwerkraf­taversiv.

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