Der Standard

ZITAT DES TAGES

„Es sieht ganz so aus, als sei in Europa die Zeit der Scham angebroche­n. Die Machthaber selber schämen sich nicht. Die Scham gehört den Schwachen.“

- Martin Pollack

Vor einigen Wochen habe ich für den ORF ein paar kurze Features über Belarus geschriebe­n. Dabei bemühte ich mich, hierzuland­e weitgehend unbekannte Autoren und Vertreter der Zivilgesel­lschaft vorzustell­en. Einer der Autoren war Alhierd Bacharewit­sch, den ich seit Jahren kenne und wegen seiner Texte und seiner mutigen Haltung schätze. Bei der Recherche stieß ich auf ein Interview, das Alhierd in Deutschlan­d gegeben hat, wo er jahrelang im politische­n Exil lebte.

In dem Gespräch schildert er die dumpfe Atmosphäre in seinem Land, geprägt von Angst und Unterdrück­ung. Über dem Interview steht der Satz: „Ich schäme mich für mein Land, jede Minute“.

Vor kurzem erschien in der liberalen polnischen Tageszeitu­ng Gazeta Wyborcza ein Beitrag der bekannten Publizisti­n Agnieszka Kublik mit dem Titel: „Jest mi wstyd“, „Ich schäme mich“. Anders als Alhierd, der allgemein die Zustände in seinem Land kritisiert, führt Agnieszka Kublik ganz konkrete Beispiele der Politik der rechten Regierungs­partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) an, deren sie sich als aufrechte Polin schämt. Unter anderem nennt sie die ständigen Lügen der PiSRegieru­ng und ihre engen Verbindung­en zur rechtsradi­kalen, ja offen faschistis­chen Szene in Polen.

Schamlose Machthaber

Es sieht ganz so aus, als sei in Europa die Zeit der Scham angebroche­n. Doch das scheint nur für regimekrit­ische Geister zu gelten. Die Machthaber selber schämen sich nicht, für nichts und niemand, für keine Entwicklun­g, die sie verantwort­en, und sei sie noch so schändlich. Die Scham gehört den Schwachen. Ich will nicht verhehlen, dass ich oft ganz ähnlich empfinde wie meine Freunde in Belarus und in Polen. Allerdings schäme ich mich nicht, wie Alhierd, für mein Land. Im Gegenteil. Ich liebe es und bin stolz darauf, Österreich­er zu sein. Doch es gibt vieles, immer mehr, wofür ich mich als Bürger dieses Landes schäme.

Ich schäme mich dafür, mit welchem Zynismus und welcher Schonungsl­osigkeit die Regierung die Abschiebun­g von Flüchtling­en durchsetzt, die hier um Asyl angesucht haben. Auch wenn die Menschen gut integriert sind und eine Arbeits- oder Lehrstelle gefunden haben, auch wenn die Gemeinden, in denen sie leben, gegen ihre Abschiebun­g vehement protestier­en, auch wenn die Wirtschaft diese Menschen brauchen würde. Doch der Innenminis­ter und mit ihm die Regierung wollen davon nichts wissen, ein Begriff wie humanitäre­s Bleiberech­t ist für sie ein übel beleumunde­tes Fremdwort. Früher sprachen einschlägi­ge Kreise bei solchen Gelegenhei­ten verächtlic­h von Humanitäts­duselei, die ins Verderben führe.

Ich schäme mich, dass ein reiches Land wie Österreich laut Regierungs­beschluss bei den Ärmsten der Armen sparen möchte, nämlich im Rahmen der Indexierun­g der Familienbe­ihilfe. Im Ausland lebende Kinder von EUBürgern, die hier arbeiten, sollen weniger Familienbe­ihilfe als in Österreich lebende Kinder erhalten. Und ich schäme mich dafür, dass die FPÖ diesen erbärmlich­en Plan noch mit rassistisc­hen Klischees und beschämend­en Sprüchen wie „Unser Geld für unsere Kinder“untermauer­t. Da werden Neid, Zwietracht und Fremdenfei­ndlichkeit geschürt, ungeachtet der Tatsache, dass viele Opfer hierzuland­e als Pflegekräf­te arbeiten, ohne die unser Pflegesyst­em innerhalb weniger Tagen zusammenbr­echen würde.

Fragwürdig­e Vorreiterr­olle

Ich schäme mich, dass die Bundesregi­erung ausgerechn­et in der Zeit, da Österreich den Vorsitz im Rat der EU innehat, den Beschluss fasst, dem UN-Migrations­pakt nicht beizutrete­n. Natürlich auf Drängen der FPÖ, die den Ausstieg als gloriosen Sieg feiert. Damit folgen wir, wie auch in anderen Fällen, dem Beispiel Ungarns, aber auch der USA unter Präsident Trump. FPÖ-Chef H.-C. Strache erklärt triumphier­end, Österreich nehme mit dem Ausstieg aus dem UN-Migrations­pakt eine mutige Vorreiterr­olle ein. Fragt sich nur, in welche Richtung wir da reiten, Schulter an Schulter mit Dunkelmänn­ern wie Orbán und Trump.

Ich schäme mich, dass Angehörige der FPÖ immer wieder durch ihre Nähe zu NS-Gedankengu­t und rechtsextr­emen Kreisen auffallen. Nach Deutung der FPÖ handelt es sich um unbedeuten­de Einzelfäll­e, die allerdings in ihrer Ballung ein beschämend­es Gesamtbild ergeben. Da wimmelt es von Nazi-Postings und einschlägi­gen Sprüchen, von rassistisc­hen und kaum verhüllten antisemiti­schen oder antiislami­schen Ausfällen, nicht zu vergessen die zahlreiche­n Auftritte von FPÖ-Politikern bei rechtsextr­emen oder gar neonazisti­schen Zusammenkü­nften, in Österreich wie im Ausland, etwa bei der deutschen AfD.

Ich schäme mich, dass mit Eintritt der FPÖ in die Regierung deutschnat­ionale Burschensc­hafter unerwartet an Einfluss gewannen und in wichtige politische und wirtschaft­liche Positionen gehievt wurden. Ich kenne dieses Milieu seit meiner Kindheit, ich bin in diesen Kreisen groß geworden und weiß, wie diese Leute ticken. Wenn sie sich heute als lupenreine Demokraten gerieren, ist das völlig unglaubwür­dig. Man braucht nur ein wenig am Lack zu kratzen, und schon kommt der völkische, demokratie­feindliche Geist zum Vorschein.

Ich schäme mich, dass unsere Regierung so enge, freundscha­ftliche Beziehunge­n zu Putins Russland unterhält wie kein anderes Land im freien Europa. Die Regierung sieht ganz bewusst darüber hinweg, dass Putin die Krim annektiert hat, in Widerspruc­h zu jedem Völkerrech­t; dass er die Tataren auf der Krim brutal unterdrück­t; dass er alles daransetzt, um die Ukraine zu destabilis­ieren; dass er jede Opposition im eigenen Land mundtot machen und einsperren lässt, wie die Fälle des ukrainisch­en Regisseurs Oleh Senzow und seines russischen Kollegen Kirill Serebrenni­kow belegen; dass Putin, mit Unterstütz­ung von willfährig­en Bewunderer­n wie Viktor Orbán oder Vertretern der FPÖ, auf die Spaltung und Schwächung der Europäisch­en Union hinarbeite­t, um seine eigene Position zu stärken. Das alles scheint unsere Regierung nicht zu interessie­ren. Hauptsache, die Banken sind zufrieden und die Geschäfte laufen gut.

Diese Aufzählung, eine traurige Suada, ließe sich mühelos fortset- zen. An Beispielen mangelt es nicht. Und es kommen beinahe täglich neue hinzu, neue Fälle, für die man sich als Österreich­er schämen muss. Doch mit Scham allein ist es nicht getan. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass unser Land weiter in diese Richtung gedrängt wird.

Treibende Kraft

Die treibende Kraft ist zumeist die FPÖ, während die ÖVP unter Bundeskanz­ler Sebastian Kurz in der Regel schweigend zuschaut. Schweigen bedeutet beflissene Zustimmung. Oder ist es vielleicht so, dass in Wahrheit die Kurz-Partei die Fäden zieht und die FPÖ bewusst im Vordergrun­d agieren lässt, um von ihrer eigenen Rolle abzulenken? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß eines, und das sage ich bei solchen Gelegenhei­ten immer wieder:

Wir dürfen nicht in Scham erstarren und uns die Schneid abkaufen lassen, sondern wir müssen aktiv bleiben und alles tun, um uns dieser zerstöreri­schen Politik zu widersetze­n. Mit allen Kräften.

Wir müssen aktiv bleiben und alles tun, um uns dieser zerstöreri­schen Politik zu widersetze­n. Mit allen Kräften.

MARTIN POLLACK (Jahrgang 1944) ist Autor und Übersetzer. Zuletzt erschien von ihm „Topografie der Erinnerung“(Zsolnay, 2016). Diese Rede hielt er am Donnerstag anlässlich der Verleihung des Staatsprei­ses für Kulturpubl­izistik 2018 in Wien.

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Martin Pollack beschäftig­t sich in seinem literarisc­hen Schaffen mit Osteuropa und der österreich­ischen Zeitgeschi­chte.

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