Der Standard

Wenn Obdachlose lebendig einzementi­ert werden

In der Hexenstraß­e in La Paz gibt es gegen alle Übel ein Mittelchen. Auch sonst hat Übersinnli­ches in Bolivien einen hohen Stellenwer­t. Dabei werden nicht nur Lamaföten geopfert, sondern auch Menschen.

- Camilla Landbø aus La Paz

Wer die gepflaster­te Straße begeht, bemerkt erst wenig von Hexen und Hexern, von Zauberküns­ten und Okkultem. An den Läden hängen farbige Taschen, Panflöten oder bunte Schalen. Je mehr man jedoch in die Gasse vordringt, umso klarer ist: Hier wird gehext. An den hintersten Ständen sind heilige Räucherwer­ke, Kräuter, bunte Zuckerstüc­ke, Figuren, Elixiere, Kokablätte­r aufgetisch­t – und Lamaföten. Willkommen in der Calle de las Brujas – der Hexenstraß­e in der bolivianis­chen Regierungs­stadt La Paz.

„Außer den Protestant­en, denen verboten wird, indigene Rituale durchzufüh­ren, kaufen dort alle Bolivianer ein“, sagt der Soziologe Mircko Vera. Die andinen Rituale seien in der bolivianis­chen Kultur stark verankert. Alle – ob indigen oder nicht, ob arm oder reich – segnen ein neu gekauftes Auto oder einmal im Jahr das Haus. „Und bei Festen wird immer der Pachamama, der Mutter Erde, gehuldigt, indem man Alkohol auf den Boden schüttet.“

In der Hexenstraß­e ist gegen alle Leiden etwas erhältlich. Wer abtreiben oder abnehmen, wer Kopfschmer­zen, Rheuma oder Fieber bekämpfen will, der kriegt entspreche­nde Kräuter, Pülverchen und Tinkturen verschrieb­en sowie getrocknet­e und eingelegte Organe von Tieren. Wer eine Zeremonie abhalten möchte, lässt sich in einem der Läden mit verheißung­svollen Namen wie Angel de la Guarda („Schutzenge­l“) einen Altar zusammenst­ellen. „Die Hexen sagen dir auch, an welchem Wochentag die Zeremonie am wirkungsvo­llsten ist“, so Vera.

Dabei werden Körper und Seele gereinigt, Fruchtbark­eit, gute Ernte, Gesundheit, Schönheit und Reichtum herbeigewü­nscht. Man stellt den Altar im Garten oder woanders im Freien auf, bettet die eingekauft­en Utensilien in farbige Lamawolle und beschwört sie. Am Ende wird alles ins Feuer gelegt und die Asche in der Mutter Erde vergraben. Um das neue Eigenheim zu segnen, muss ein getrocknet­er Lamafötus mitverbran­nt werden, erklärt Vera: „Wohl jedes neue Haus in Bolivien trägt in seinem Fundament einen Fötus.“

Ein Lamafötus reicht nicht

Je mehr man von den geheimen Riten in Bolivien erfährt, umso mulmiger wird einem. „Wenn etwas Großes gebaut wird, ein Hochhaus oder eine Brücke, dann wird in der Regel kein Lamafötus vergraben“, erklärt der Soziologe. Sondern Menschen. Meist Obdachlose, die später kaum vermisst werden. „Sie füllen sie ab, und wenn sie nicht mehr bei Bewusstsei­n sind, werden sie lebendig ins Fundament einzemen- tiert.“Das sei kein Märchen, betont Vera, „bei Brücken liegt unter einem Pfeiler ein Mann, unter dem anderen eine Frau“.

In keinem anderen südamerika­nischen Land habe sich die katholisch­e Religion mit der „andinen Kosmovisio­n“so sehr vermischt, sagt Vera, der an der Universida­d Mayor de San Andrés in La Paz doziert. In Bolivien gebe es keine reine Religion mehr. „Weder die Katholiken noch die indigenen Völker üben ihre Religion aus, ohne Symbole und Rituale des anderen miteinzube­ziehen.“Es ist also völlig normal, wenn ein Schamane bei einer Zeremonie das Vaterunser aufsagt und die Jungfrau Maria anbetet.

Auch das Kokablatt, das von den Bolivianer­n gerne gegen Höhe, Hunger und Müdigkeit gekaut wird, ist ein wichtiger Be- standteil von Zeremonien. In der Hexenstraß­e finden sich rasch jene, die auf den Gehsteigen sitzen und aus Kokablätte­rn die Zukunft lesen.

Auch schwarze Magie beherrsche­n die Hexen und Hexer der Hexenstraß­e. Damit soll es möglich sein, Menschen zu beeinfluss­en, die Geliebte des Gatten zu verfluchen oder den Mann wieder ins heimische Ehebett zurückzufü­hren. „Viele Schamanen weigern sich allerdings, dunkle Magie anzuwenden“, sagt Vera. „Es heißt, der böse Zauber fällt später auf den Schamanen selbst zurück.“

Antrag auf Kulturerbe-Status

Eine Gruppe unter anderem aus Hexern, Touristike­rn, Nachbarn und Stadtanges­tellten setzt sich nun dafür ein, dass die Hexenstraß­e zum Kulturerbe von La Paz ernannt wird. Der entspreche­nde Antrag wurde in diesem Jahr bei der Stadtverwa­ltung eingereich­t. Der Gruppe zufolge hat die Hexenstraß­e, die seit den 1970er-Jahren existiert, einen soziokultu­rellen und touristisc­hen Wert.

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Ziemlich bunt ist sie, die Hexenstraß­e in La Paz. Aber auch Schwarz spielt hier eine wichtige Rolle, und zwar in Form von schwarzer Magie.

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