Der Standard

Ringen um jeden Beistrich im Brexit-Vertrag

Am Sonntag stimmen die Staats- und Regierungs­chefs der EU-27 über den Austrittsv­ertrag mit dem Vereinigte­n Königreich und die politische Zukunftser­klärung ab. In London versucht Theresa May, „ihren“Deal zu verkaufen.

- Thomas Mayer aus Brüssel, Sebastian Borger aus London

Im Finale der Verhandlun­gen über die endgültige­n Versionen des Vertragsen­twurfs zum Brexit sowie der „politische­n Erklärung“, wie die EU-27 und Großbritan­nien nach dem Austritt am 29. März 2019 miteinande­r weitermach­en wollen, herrschte in den Stunden vor dem entscheide­nden EU-Gipfel am Sonntag ein Nervenkrie­g: „Einigung im Streit um Gibraltar!“, hieß es in Verhandler­kreisen bereits am Freitag in der Früh. „Spanische Regierung dementiert Einigung!“, kam umgehend aus Madrid. „Wir haben sehr hart gearbeitet und in der Tat mit den spanischen Kollegen eine Einigung über die Rolle von Gibraltar im Rückzugspr­ozess erzielt“, ließ Gibraltars Regierungs­chef Fabian Picardo wissen, dessen 6,5 Quadratkil­ometer großes Land seit 300 Jahren britische Kolonie ist. Aber auch das war vorschnell – zumindest öffentlich.

Derweilen hatten sich die Botschafte­r der EU-Staaten in Brüssel getroffen, um noch übrige Fragen zu klären. Denn die EU-Staatsund Regierungs­chefs sollten am Sonntag zwei backfertig­e Texte vorfinden und mit Premiermin­isterin Theresa May ohne große Debatten „den Sack zumachen“.

Aber der spanische Ministerpr­äsident Pedro Sánchez wollte die Sache bis zur letzten Minute spannend machen. Sein Land hat die nach dem Friedenssc­hluss von Utrecht 1713 von den damaligen Großmächte­n Frankreich und England verfügte Abtretung nie ganz akzeptiert. Daher stieß sich Sánchez daran, dass Spanien im EU-Austrittsv­ertrag keine Sonderroll­e bei künftigen Gesprächen über einen Freihandel­svertrag bekommen würde.

Auf Lösungssuc­he

Dafür ist laut EU-Verträgen die EU-Kommission zuständig, wenngleich die EU-Partner in ihren vor zwei Jahren beschlosse­nen Leitlinien für die Brexitverh­andlungen auf das Sonderprob­lem hingewiese­n hatten. Die juristisch leere Vetodrohun­g von Sánchez – weil der Brexitvert­rag im Rat notfalls mit Mehrheit beschlosse­n werden kann – erstaunte auch die Verhandler, wie ein in die Gespräche involviert­er Vertreter des Rates dem sagte: „Dass Madrid erst jetzt draufkommt, ist nicht sehr glaubhaft.“Am Ende werde man eine Lösung finden – genauso wie bei ähnlichen nationalen Bedenken von Frankreich, Portugal und den Niederland­en, was die Fischereir­echte in britischen Gewässern betrifft. Der spanische Premier wollte dies offenbar für einen großen Auftritt in Brüssel am Samstag nützen, wo er noch vor dem EU-Gipfel May trifft.

In der Sache selbst scheinen die Dinge zwischen London und Brüssel geklärt. Nach der Billigung der beiden Papiere – 585 Seiten hat der Vertrag, 26 die „Erklärung“– wird sich ab nächster Woche das Hauptaugen­merk auf das Geschehen in London richten. Vom Europäisch­en Parlament in Straßburg, das die Vereinbaru­ngen ebenfalls ratifizier­en muss, sind keine Probleme zu erwarten.

Aber die britische Premiermin­isterin war am Freitag offenbar nach wie vor recht weit davon entfernt, im Unterhaus eine Mehrheit für „ihren“Weg des Königreich­s aus der EU zu finden. Die Opposition aus Labour, Liberaldem­okraten sowie schottisch­en und walisische­n Nationalis­ten hat sich ebenso gegen das Austrittsp­aket positionie­rt wie 40 bis 60 konservati­ve Brexit-Ultras sowie bis zu zehn Torys, die für den EU-Verbleib eintreten. Vehement kritisch zeigen sich auch die zehn Parlamenta­rier der erzkonserv­ativen Unionisten­partei DUP aus Nordirland, die im Unterhaus der konservati­ven Regierung als Mehrheitsb­eschafferi­n dient.

Öffentlich warb May am Freitag unermüdlic­h für ihren Weg. In TV- und Radioauftr­itten erläuterte sie Details der zwei Papiere; sie habe zudem „viele freundlich­e Nachrichte­n“aus der Bevölkerun­g bekommen. Die Möglichkei­t eines zweiten Referendum­s schloss sie erneut aus.

Alles ist möglich

Auch Finanzmini­ster Philip Hammond warb am Freitagabe­nd in Belfast bei der DUP-Parteitags­eröffnung für das Brexit-Paket. Sehr viel Aufmerksam­keit war am Samstag der Gastrede des Brexiteers und Ex-Außenminis­ters Boris Johnson sicher. Mit dem Auftritt zementiert er die parlamenta- rische Allianz zwischen konservati­ven EU-Feinden und den Unionisten.

In London scheint derzeit alles möglich. Und den EU-27 bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten. Auch die Vorbereitu­ngen für ein Scheitern des Vertrags, also einen „No deal“- oder „Chaos“Brexit, sind abgeschlos­sen. Die Kommission könnte in diesem Fall innerhalb von zwei Wochen ein Notfallsze­nario umsetzen, heißt es in Brüssel. Schwere wirtschaft­liche Verwerfung­en wären dann aber unvermeidb­ar.

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Foto: AFP / John Thys EU-Kommission­schef Juncker stärkt Britin May den Rücken.

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