Der Standard

„Wie Kindesmiss­handlung behandeln“

Zum internatio­nalen Tag gegen Gewalt an Frauen spricht Aktivistin Leyla Hussein darüber, wie sie gegen Genitalver­stümmelung nicht predigen will, sondern zeigen, wie falsch sie ist.

- Beate Hausbichle­r

Zweihunder­t Millionen Frauen und Mädchen sind genital verstümmel­t. Die Aktivistin Leyla Hussein ist in einer strenggläu­bigen muslimisch­en Familie aufgewachs­en und selbst betroffen. Die aus Somalia stammende Psychother­apeutin fordert, Genitalver­stümmelung­en (FGM) gesetzlich und sprachlich als das zu bezeichnen, was es ist: Kindesmiss­handlung.

Warum hält sich Genitalver­stümmelung bis heute? Hussein: Weil wir noch immer in einer Gesellscha­ft leben, die Frauen kontrollie­ren will. Wenn junge Mädchen beschnitte­n werden, wird ihnen eine Botschaft überbracht: Du bist nicht frei. Historisch kommt FGM von den Pharaonen, nicht vom Islam, aber das interessie­rt jene nicht, die FGM praktizier­en. Solange sich damit Frauen kontrollie­ren lassen, ist es okay. Und die sogenannte westliche Politik spielt mit, wenn sie dazu schweigt. Ich spreche in Bezug auf FGM auch nicht von Tradition oder Kultur, sondern FGM ist schlicht Kindesmiss­handlung.

Sie selbst leben in London. Haben europäisch­e Städte zu wenig Erfahrung im Umgang mit FGM? Hussein: Nein, denn sie haben Erfahrung mit Kindesmiss­handlung. Für mich ist die Antwort einfach, wie wir mit FGM umgehen sollten: Behandeln wir sie einfach wie Kindesmiss­handlung. Wir machen ständig den Fehler, dass wir nach unterschie­dlichen Antworten suchen. Was sollen wir tun, wenn ein Kind geschlagen wird? Was, wenn einem Kind der Finger abgeschnit­ten wird? In Frankreich wird FGM mit dem Gesetz zu Kindesmiss­handlung geregelt. Wir sollten alle Kinder gleichbeha­ndeln, und wir müssen aufhören, FGM als etwas zu behandeln, das etwas völlig anderes wäre. Ist es nicht. Wir müssen keine speziellen Gesetze für spezielle Kinder konstruier­en.

Sie begegnen in Ihrer Arbeit Menschen, die FGM verteidige­n. Was sagen Sie ihnen? Hussein: Menschen, die früher selbst FGM durchgefüh­rt haben, sagen mir immer wieder, dass sie es einfach nicht besser wussten. Mein Ansatz ist, nicht zu predigen, dass FGM falsch ist, ich möchte es einfach zeigen. (In dem Film „Female Pleasure“wird Hussein gezeigt, wie sie jungen Menschen anhand einer großen Vulva aus Knetmasse zeigt, was bei den verschiede­nen Formen von FGM weggeschni­tten wird, Anm.) INTERVIEW: Auch Sprache ist wichtig. Nehmen wir ein anderes Beispiel, etwa den Begriff „Kinderehe“. Eine Ehe mit Kindern gibt es nicht, es ist Pädophilie, keine Ehe. Wenn ich mit potenziell­en Beschneide­rinnen spreche und ihnen sage, dass sie zu Gewalttäte­rinnen werden, wenn sie beschneide­n, dann reagieren sie ganz anders. Wir müssen also sehr direkt sein, wenn wir Veränderun­g wollen.

Sie sind eine Überlebend­e von FGM. Kann Ihre Mutter Ihr Engagement gegen FGM verstehen? Können Sie heute Ihre Mutter verstehen, die FGM an Ihnen und Ihrer Schwester zugelassen hat? Hussein: Meine Mutter dachte früher, FGM würde ihre Religion vorschreib­en. Jahre später erkannte sie, dass davon nichts im Koran steht. Meine Mutter und ich hatten eine schwierige Unterhaltu­ng über das Thema, doch wir kamen zu einem Verständni­s füreinande­r: Ich verstehe, dass sie das Gefühl hatte, es tun zu müssen, und sie versteht, dass ich die Wahl hatte, es nicht zu tun. Heute feiern wir, dass ihre Enkeltocht­er und meine Tochter nicht beschnitte­n wurde. Wir konzentrie­ren uns auf diesen gemeinsame­n Ausgangspu­nkt. Wenn mich jemand fragt, wie ich meinen Eltern vergeben kann, dann muss ich immer daran denken, was für eine Bürde es sein muss, damit zu leben – denn meine Mutter weiß heute, dass es furchtbar falsch war. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es ist, damit zu leben. Ihr Weg, damit umzugehen, ist, mich in meiner Arbeit zu unterstütz­en. Ohne sie könnte ich meine Arbeit gar nicht machen.

Sie beschreibe­n sich selbst als muslimisch­e Frau. Warum ist Ihnen das wichtig, ist die Unterdrück­ung von Frauen doch in allen Weltreligi­onen in der einen oder anderen Weise verankert?

Der Islam, mit dem ich aufgewachs­en bin, ist – abgesehen davon, dass unter seinem Namen FGM angewandt wird – eine wunderschö­ne Religion. Niemand hat mir erzählt, ich sei anders, weil ich ein Mädchen bin, oder dass ich mir das Haar bedecken müsste. Doch den Islam, den heute viele sehen, sehe ich auch. Trotzdem lasse ich mir meinen Islam, wie ich ihn erleben durfte, nicht von Verrückten nehmen, die sich im Namen dieser Religion in die Luft sprengen oder Frauen unter einen Schleier zwingen. Wenn Sie Bilder von somalische­n Frauen in den 1980er-Jahren googeln, sehen Sie keine Frau im Vollschlei­er.

Im vergangene­n Jahr wurde Gewalt gegen Frauen durch #MeToo zu einem großen Thema. War das vor allem ein Vorstoß eines „weißen“Feminismus?

Damit nehmen Sie mir die Worte aus dem Mund. #MeToo war ursprüngli­ch die Idee einer schwarzen Frau, Tarana Burke. Interessan­t wurde es aber erst, als diese Idee von Alyssa Milano aufgegriff­en wurde. Grundsätzl­ich ist nichts falsch daran, wenn weiße Frauen ihre Privilegie­n für das Richtige einsetzen. Ich sage immer zu meinen weißen Freundinne­n und Kolleginne­n, am Ende des Tages sind wir eine Community. Wenn eine weiße Frau auf ein Podium eingeladen wird, sollte sie aber auch eine Woman of Color dafür vorschlage­n. Ich selbst bin Protagonis­tin in einem Film, der von einer weißen Frau gemacht wurde – aber sie nutzte das Privileg, Regisseuri­n zu sein, sehr gut. Das ist auch ein Beispiel, wie Women of Color zu Wort kommen können.

LEYLA HUSSEIN wurde 1980 in Somalia geboren und lebt als Psychother­apeutin und Aktivistin in London. Sie kämpft gegen FGM und für sexuelle Selbstbest­immung von Frauen. Hussein ist Teil der Dokumentat­ion „Female Pleasure“, in der feministis­che Aktivistin­nen und ihre Arbeit porträtier­t werden.

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Leyla Hussein: „Ich lasse mir meinen Islam, wie ich ihn erleben durfte, nicht von Verrückten nehmen.“ Hussein: Hussein:

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