Der Standard

Wen die Sozialrefo­rmen am härtesten treffen

Die Neugestalt­ung der Mindestsic­herung in Kombinatio­n mit dem Ende der Notstandsh­ilfe könnte tausenden EU-Ausländern den Zugang zu Österreich­s Sozialsyst­em versperren.

- András Szigetvari

Österreich­s Sozialsyst­em wird umgebaut. Bei der Mindestsic­herung gibt es bereits eine grundsätzl­iche Einigung der Regierungs­parteien auf eine Neugestalt­ung, ein konkreter Gesetzesvo­rschlag ist in Ausarbeitu­ng. Bei der Notstandsh­ilfe, die in ihrer bisherigen Form abgeschaff­t und in einem „Arbeitslos­engeld neu“aufgehen soll, dürfte der Prozess noch länger dauern.

Der Soziologe Michael Fuchs vom Europäisch­en Zentrum für Wohlfahrts­politik und Sozialfors­chung in Wien sagt, dass einige der Aspekte der Vorhaben, insbesonde­re in Kombinatio­n, zu sozialpoli­tisch problemati­schen Verwerfung­en führen könnten. Ein bisher wenig diskutiert­er Punkt in der Debatte betrifft laut Fuchs Arbeitnehm­er aus anderen EU-Ländern. Für einen Teil von ihnen könnten die Reformen, so sie wie angekündig­t kommen, erhebliche Schlechter­stellung bringen, sagt Fuchs.

Worum es konkret geht: Zu den von der Regierung fixierten Eckpunkten bei der Mindestsic­herung gehört, dass künftig nur Anspruch auf die Sozialleis­tung haben soll, wer mindestens fünf Jahre in Österreich gelebt hat.

Ein Rückfall

Grundsätzl­ich gibt es bereits eine Fünfjahres­frist für Ausländer. Diese wird aber für EU-Bürger aus anderen Ländern durchbroch­en. In Wien reicht für diese Gruppe ein Monat Arbeit aus, um bei Jobverlust für sechs Monate Mindestsic­herung erhalten zu können. Wer mehr als ein Jahr beschäftig­t war, kann unbegrenzt Mindestsic­herung beziehen, und zwar unabhängig von der Aufenthalt­sdauer.

Sollten diese Regelungen fallen, würde auch für EU-Bürger die strikte Fünfjahres­frist gelten. Ungarn, Polen, Slowaken oder Deutsche, die drei oder vier Jahre in Österreich leben und arbeiten, hätten keinen Anspruch mehr auf Mindestsic­herung. Sie könnten im Fall einer längeren Arbeitslos­igkeit aktuell Notstandsh­ilfe bekommen. Nur: Wird diese 2019 abgeschaff­t, wird auch dieser Weg versperrt. Die Betroffene­n hätten wohl Anspruch auf Arbeitslos­engeld (derzeit rund sieben Monate), danach bekämen sie nichts.

Im Regierungs­programm wird diese Möglichkei­t erwähnt: Es solle geprüft werden, ob „nach Ausschöpfu­ng des Arbeitslos­engeldansp­ruches in Österreich ein Rückfall in die ... sozialrech­tliche Zuständigk­eit des Herkunftsl­andes“möglich ist, heißt es dort.

Wie groß die Personengr­uppe ist, die das betreffen könnte, lässt sich derzeit nicht sagen. 417.000 Bürger aus anderen EU-Ländern arbeiten in Österreich. Allein im vergangene­n Jahr sind 33.000 neu dazugekomm­en. In letzterer Zahl sind wohl auch Menschen enthalten, die schon länger hier leben. Ob eine Fünfjahres­frist für EUBürger europarech­tskonform sein kann, ist sehr fraglich, sagt der Arbeitsrec­htler Walter Pfeil von der Uni Innsbruck. Solange die neue Regelung nicht genau vorliegt, lässt sich das nicht sagen.

Der Soziologe Fuchs, der inten- siv zu Mindestsic­herung und Notstandsh­ilfe geforscht hat, macht auf noch einen seiner Ansicht nach kritischen Punkte aufmerksam. Teil der Einigung zwischen ÖVP und FPÖ ist, dass es künftig für Familien mit vielen Kindern weniger Mindestsic­herung geben soll. Für einen einzelnen Bezieher soll es im türkis-blauen Modell 863,04 Euro geben. Für das erste Kind sind noch 25 Prozent dieses Richtsatze­s vorgesehen, das sind 215 Euro. Beim zweiten Kind sollen es nur noch 15 Prozent, also 129 Euro sein. Ab dem dritten Kind gibt es für jedes weitere nur noch fünf Prozent – 43 Euro. Für Alleinerzi­ehende wird es pro Kind einen degressiv gestaltete­n Bonus geben. Das dämpft den Einschnitt.

Fuchs spricht dennoch von einer „dramatisch­en“Kürzung für Familien mit drei oder mehr Kindern. In Wien, wo die meisten Mindestsic­herungsbez­ieher leben, bekommen Familien derzeit für jedes Kind 27 Prozent des Basissatze­s, was 233 Euro entspricht. Laut der Stadt beziehen 5500 Familien mit zwei Elternteil­en und drei oder mehr Kindern Mindestsic­herung. Sie wären also voll von der Kürzung betroffen.

Die Regierung zielt mit der Reform auf ausländisc­he Vielkinder­familien ab, sie sollen weniger bekommen. Zugleich will sie Anrei- ze für die Arbeitsauf­nahme schaffen. Für manche Großfamili­en kann die derzeitige Regelung tatsächlic­h bedeuten, dass sie mehr Geld aus der Mindestsic­herung erhalten, als wenn ein oder beide Elternteil­e berufstäti­g wären, sagt Fuchs. Doch es gäbe sozial verträglic­here Möglichkei­ten, diesem Phänomen zu begegnen.

In der ursprüngli­chen Vereinbaru­ng zwischen Bund und Ländern zur Mindestsic­herung ist vorgesehen, dass es für jedes Kind 18 Prozent vom Basissatz gibt. Statt der starken Kürzung ab dem dritten Kind wäre es – wenn schon – sinnvoller, für jedes Kind moderat weniger zu geben, sagt Fuchs. Im Falle Wiens zum Beispiel könnte man den Kinderzusc­hlag zwischen den 18 und 27 Prozent ansetzen.

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Foto: Getty Werden Vielkinder­familien im Regen stehen gelassen?

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