Der Standard

Was eine Nation der anderen verdankt

Seine Mission sei es, „in einer Zeit nationaler Zerrissenh­eit gerade das verbindend­e Element“zu betonen, sagte Stefan Zweig 1932 in einem Vortrag in Florenz. In seinem humanistis­chen Anspruch und dem Glauben an die Kultur und an ein vereinigte­s Europa ist

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In den Schulen müsste eine Umschaltun­g des Lehrplanes in allen Staaten und Ländern von der politische­n, der militärisc­hen Geschichte zur Kulturgesc­hichte erfolgen. Zu lange und zu viel hat man die Geschichte nur als eine Aufeinande­rfolge von Kriegen dargestell­t, als ob die militärisc­he Leistung die einzige und einzig heroische jedes Landes und sein wesentlich­er Anspruch an die Menschheit in den zwei oder drei Jahrtausen­den unserer geistigen Existenz gewesen wäre. Von einer übernation­alen Warte gesehen, von einem Universals­tandpunkte aber ergibt nun dieser Aspekt der Geschichte als Kriegsgesc­hichte eigentlich eine völlige Sinnlosigk­eit. Völker schlagen Völker, Armeen Armeen, Feldherren besiegen Feldherren, Städte werden zerstört, Länder werden groß und wieder klein, Reiche schwellen auf oder schwinden zusammen, immer andere, immer andere, es ist ein ewiges Weiter und Weiter und kein Aufstieg und kein Zusammenha­ng. Neben dieser Geschichte besteht aber glückliche­rweise noch eine zweite der Menschheit: der Aufbau der Kultur, die großen Erfindunge­n, die Entdeckung­en, die Fortschrit­te in Sitte, Wissenscha­ft und Technik, und während die bloße Geschichte der Kriege als Gesamtheit nur ein ständiges Auf und Ab ergibt, zeigt die Kulturgesc­hichte ein ständiges unaufhalts­ames Hinauf, ein immer und immer höheres Empor. Während die Kriegsgesc­hichte dartut, was die einzelnen Länder aneinander verschulde­n, wie Frankreich Deutschlan­d plündert und Deutschlan­d Frankreich, wie Griechenla­nd Persien schädigt und Persien Griechenla­nd, während sie in den Nachfahren unweigerli­ch Hass erregt und nachträgli­che Erbitterun­g, zeigt die andere, die Kulturgesc­hichte, was eine Nation der anderen verdankt, und erschafft so das großartige Register aller Errungensc­haften und Entdeckung­en. In der Kriegsgesc­hichte erscheinen sich die Völker einzig als Feinde, in der Kulturgesc­hichte als Brüder, durch sie begreifen sie, wie ein Land das andere befruchtet, wie Erfindung mit Erfindung sich ergänzt hat, wie von einem Volke zum anderen gleichsam Ströme des schöpferis­chen Willens hinübergeh­en und jede einzelne Leistung, im Gegensatze zu den kriegerisc­hen, das gemeinsame Wohl steigert.

„Die moralische Entgiftung Europas“, Vortrag in Rom, 1932

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