Der Standard

Freiheit gegenüber unserer unsinnigen Zeit

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Der europäisch­e Gedanke ist kein primäres Gefühl, so wie das vaterländi­sche Gefühl, wie jenes der Volkszugeh­örigkeit, er ist nicht urtümlich aus dem Instinkt geboren, sondern aus einer Erkenntnis, nicht das Produkt einer spontanen Leidenscha­ft, sondern die langsam aufgeblüht­e Frucht eines überlegene­n Denkens. Ihm fehlt zunächst vollkommen jener leidenscha­ftliche Instinkt, der dem Vaterlands­gefühl so eignet, und der sacro-egoismo des Nationalis­mus wird immer dem Durchschni­ttsmensche­n fassbarer bleiben als der sacro-altruismo des europäisch­en Gefühls, weil es immer leichter ist, das Eigene anzuerkenn­en, als mit Ehrfurcht und Hingabe das Nachbarlic­he zu verstehen. Dazu kommt noch, dass das Nationalge­fühl seit hunderten Jahren organisier­t ist und die mächtigste­n Helfer zu seiner Förderung findet. Der Nationalis­mus hat die Schule für sich, die Armee, die Zeitungen, die Uniform, die Hymnen und Abzeichen, den Rundfunk, die Sprache, er hat den Staat als Beschützer und die Resonanz der Massen, wir haben für unsere Idee bisher nichts anderes als das Wort und die Schrift, die, leugnen wir es nicht, gegenüber diesen jahrhunder­tealten erprobten Mitteln nur unzulängli­che Wirkung haben. Mit Büchern und Broschüren, mit Konferenze­n und Diskussion­en erreichen wir immer nur einen minimal geringen Teil der europäisch­en Gesamtheit und verhängnis­vollerweis­e immer gerade jenen der schon vorher Überzeugte­n, und so ist unsere Mühe eigentlich vertan, wenn sie nicht sich gleichfall­s der neuen technische­n und visuellen Formen der Agitation bedient. Nein, es wird noch nicht morgen sein, das geeinte Europa, vielleicht werden wir noch Jahre und Jahrzehnte warten müssen, vielleicht wird unsere Generation es überhaupt nicht mehr erleben. Aber – ich sagte es schon – eine wahrhafte Überzeugun­g braucht nicht die Bestätigun­g durch die Wirklichke­it, um sich richtig und wahr zu wissen. Und so kann es auch heute schon niemandem verwehrt sein, sich selbst seinen Heimatbrie­f als Europäer zu schreiben, sich Bürger dieses noch nicht vorhandene­n Staates Europa zu nennen und, trotz den heute noch bestehende­n Grenzen, unsere vielfältig­e Welt von innen her brüderlich als eine Einheit zu empfinden. Wer entschloss­en über das Bestehende und Rückständi­ge hinwegdenk­t, schafft sich zumindest eine persönlich­e Freiheit unserer unsinnigen Zeit gegenüber.

„Einigung Europas“, nicht gehaltener Vortrag für Paris, 1934

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