Eine Idee lebt
Es wäre töricht, es zu leugnen: Wir, die wir von je und die wir von heute noch die Einheit Europas, die Verbrüderung der Völker wollten, sind weniger als vor einem Jahre. Denn die Welt ist müde. Der Einzelne ist müde, er will nicht die Ideale, die Wirklichkeiten erst für die nächste Generation sind, er will Ruhe, er will sein eigenes Werk, sein eigenes Leben. Nie war aber – dies müssen wir nun fühlen! – unsere Bemühung darum notwendiger als jetzt, wo sie fast aussichtslos geworden ist. Wir sind weniger, darum müssen wir leidenschaftlicher, müssen wir stärker sein. Vielleicht ist es gut, dass unsere Pläne einer Zusammenkunft, einer Parade, nicht zu früh sich erfüllten: (...) Eine Idee lebt, wenn sie von hundert Millionen auch nur ein Dutzend Menschen, ja wenn sie nur ein einziger Mensch mit seinem ganzen Wesen darstellt ... Wir haben viel erhofft, wir haben wenig erreicht. So viel wie nichts ist geschehen in der Welt von dem, was wir verwirklichen wollten. Der internationale Gedanke, den wir wieder erwecken wollten in den Menschen, in den Nationen (deren Hände noch blutig waren vom Krieg), ist ohne Macht geblieben, die Grenzen starren härter als je zwischen den Völkern, das Misstrauen – gedüngt von dem Kot einer erbärmlichen Presse – wuchert noch zu beiden Seiten des Abgrunds.
„Bilanz eines Jahres. Das Tage-Buch“, 24. 12. 1920