Poesie, eine Verwandte des Exils
Der Schweizer Autor Ralph Dutli wird am Sonntag im Wiener Literaturhaus mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet. Hier Ausschnitte aus seiner Dankesrede.
Von einer meiner Lieblingsdichterinnen, Emily Dickinson, stammt der Vers: „True poems flee“. Wahre Gedichte fliehen. Ihrer Fluchtbewegung zu folgen, soweit der Atem reicht, belebt den Organismus, das Denken, alle Sinne. Der Versuch, sie einzuholen, mag oft illusorisch sein, aber die Mühe soll sich lohnen.
Die Poesie ist eine Fliehende, zumindest eine nahe Verwandte von Flucht und Exil. Einige der besten Werke der Weltliteratur verdanken sich dem Exil, und ich bin erstaunt, wie viele Exilanten es unter den Dichtern gibt, die mich am meisten faszinieren: Ovid, Dante, Heinrich Heine, Marina Zwetajewa, Joseph Brodsky. Nimmt man noch den Emigranten Ossip Mandelstam hinzu, ergibt sich ein über Raum und Zeit hinweg fliehender Stimmenchor. In meinem Roman Soutines letzte Fahrt ist es ein Maler, den ich im Pariser Exil zeige in den Jahren 1913 bis 1943, bis er als Lebender in einem Leichenwagen versteckt von der Loire ins besetzte Paris gefahren wird zur vermeintlich lebensrettenden Operation.
Nach einem Morphin-Delirium, in dem er einem mysteriösen „Doktor Bog“begegnet („Bog“heißt „Gott“auf Russisch), fliegt er am Ende als lachende Seele über den Friedhof Montparnasse, längst sind ihm Antennen gewachsen für den Kontakt zum fliehenden Chor. Der Roman erkundet die Wunden des Exils, er selbst ist Fahrt und Flucht, die keine Heilung kennt, es sei denn im prekären Asyl der Schrift.
Nach einer vor kurzem aufgekommenen Sprachregelung gibt es keine Flüchtlinge mehr, sondern nur Geflüchtete. Das substantivierte Partizip Perfekt ist aber keine Lösung, wer denkt sich solche Wörter aus? Abgesehen davon, dass es hässlich ist (mitsamt dem „tä-tä“am Wortende), impliziert es vorschnell, die Flucht sei jetzt abgeschlossen und erledigt. Das Andauernde der Fluchtbewegung wird verkannt.
Ich gestehe, dass ich das deutsche Substantiv-Suffix „-ling“mag, in Fremdling, Winzling, Däumling, Findling (von Liebling und Schmetterling ganz zu schweigen). Das ist tatsächlich eine seltsame Art Verkleinerungsform, die ich aber nicht als herabsetzend oder verniedlichend empfinde. Es liegt etwas Fürsorgliches, Güte und Wärme Verbreitendes in dem Wort, das auf „ling“endet (natürlich nicht in Ausnahmen wie „Fiesling“).
Klingen und gelingen
Auch assoziiere ich für mich das „ling“-Suffix mit der Zunge, einem bei der Lautentstehung – und mithin der Poesie – beteiligten Organ, ebenso frei assoziiert mit den mir nahen romanischen Sprachen: „lingua“, „langue“. Poesie entsteht unter, über, mit und aus der Zunge. Nur was klingt, gelingt. Und natürlich will nicht nur die Zunge, sondern auch das Ohr sein Recht bekommen in dem musikalischen wie magischen Phänomen namens Poesie.
Das L ist ohnehin mein Lieblingslaut, in Lallen, Laben, Lieben, Leben, Lippen, Lust, Leichtigkeit und Lachen. Ich liebe den Liquid, den Fließlaut, der auf die Bewegung, den Strom der Poesie deutet, ebenso wie den Labial, den Lippenlaut, der jenem liebend gerne folgt. Von einem anonymen Dichter stammen die Verse: „Lichtregen Lichtlagen Gelage Lichtlache / lachen lecken Pfütze des Lichts / Lichtlefze lechzt Lichts“. Lichtlefze! Was sind die Dichter anderes als diese Lichtlefzen …
Für den russischen Dichter Ossip Mandelstam sind Lallen und Flüstern Metaphern für die Sprache der Poesie, für eine Lichtquelle, für den Lichtstrahl, den sie bedeutet: „Er ist nur darum Strahl, / Er ist nur darum Licht: / Vom Flüstern mächtig-prall, / Vom Lallen warm und dicht“. (...)
Wenn Kaiser oder Diktatoren Dichter entsorgen, geht es in der Nachwelt meist schlecht aus für Erstere. In dem Gedicht Schutthaufen beschäftigt sich Erich Fried tatsächlich mit Mandelstam, der 1938 in einem Transitlager des Gulag bei Wladiwostok in einem Abfallhaufen nach Essbarem wühlt. Zugleich beschwört Fried die Mächtigen, die ihre Opponenten auf den „Schutthaufen der Geschichte“werfen wollen: „Wenn die Menschheit Glück hat / werden die Archäologen des Schutthaufens der Geschichte / noch etwas vom Heimweh nach Weltkultur ausgraben / Wenn sie Glück hat werden die Archäologen / auf dem Schutthaufen der Geschichte Menschen sein“.
Die Poesie ist eine Exilantin, in einer fremden Sprache flüsternd oder lallend. Poesie wird nie eine Geflüchtete sein, wenn schon – eine Fliehende, also doch ein Flüchtling. Vielleicht haben wir ein gestörtes Verhältnis zum Diminutiv, wir sind bereit, die Verkleinerung zu schmähen, während das diktatorisch Hochtrabende oder sich protzend Aufplusternde oder Aufgeblähte heute wieder groß gefeiert werden will.
Wenn es aus mentalen Darmschläuchen aus dem Flachbildschirm hervorbläht, stehe ich manchmal auf, recke die Fäuste empor und jaule oder maule: Make POETRY great again! Gleich darauf aber komme ich mir sehr albern vor und gelobe, dieses Clowngehabe beim nächsten Mal zu unterlassen. Im Übrigen braucht Poesie keine neue Größe, sie braucht überhaupt das Große und Protzige nicht, sie ist vielleicht einzig eine Schule der Demut und der durchtriebenen Verkleinerungsform. Und sie ist nicht nur eine nahe Verwandte von Flucht und Exil, sondern auch von Befreiung. (...)
Das Verhältnis der Poesie zu Flucht, Exil und Freiheit verfolgt mich. Menschen ertrinken auf dem Weg ins prekäre Paradies, sie werden als Sklaven verkauft, sie sehen das andere Ufer nur als dunklen Umriss. Darf ich hier in Wien ein paar Verse von Hugo von Hofmannsthal über die Bootsflüchtlin- ge zitieren? Es ist eins meiner Lieblingsgedichte, ich zähle es zu den wunderbarsten, die je geschrieben wurden: „Manche freilich müssen drunten sterben, / Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, / Andre wohnen bei dem Steuer droben, / kennen Vogelflug und die Länder der Sterne. (…) Doch ein Schatten fällt von jenen Leben / In die anderen Leben hinüber, / Und die leichten sind an die schweren / Wie an Luft und Erde gebunden“usw. (...)
Das Exil als besonderes Ferment für die Übersetzung von Dichtung – auch davon könnte Erich Fried, der Übersetzer Shakespeares und Dylan Thomas’, ein Lied singen. Die Befreiung von der Flucht meint auch ein gewisses erneuertes Zutrauen in die Sprache. Nicht sie trifft die Schuld an den Katastrophen. Deshalb darf ein Dichter ihr so viel zumuten, wie es nur geht. Und noch ein Gedicht Erich Frieds, Logos: „Das Wort ist fest / und das Wort ist lose / Das Wort ist mein Fest / und das Wort ist mein Los“. (...)
Einübung ins Exil
Es ist nicht so, dass ich mich mit meinem bescheidenen Werk in jenem der großen Exilanten spiegeln möchte. Angesichts der heutigen Flüchtlingsströme und ihres Elends verbietet sich jede Koketterie mit dem Exilschicksal. Wichtiger als jede Nationalität ist mir das, was ich mit der Sprache anstelle in einem eminent erotischen Verhältnis. Und wo ich die Poesie als Lebensweise praktizieren darf, da bin ich auf merkwürdige Art zu Hause. Ich definiere mich nicht wirklich über meine Nationalität: zufällig Schweizer, irgendwie halber Italiener (der Vater meiner Mutter war Italiener, die Mutter meines Vaters Italienerin), dazu angeheirateter Franzose, der vor allem russische Gedichte ins Deutsche übersetzt hat, Exilant mit multiplem Poesie-Pass, und ohne zu zögern – Europäer.
Poesie ist selbst ein dauerndes Ausland und Anderswo, auch wenn es hier stattfindet. Sie ist die permanente Einübung ins Exil, eine sinnreiche Eingewöhnung in ein mobiles Anderswo, wo man sich (wo der Text sich) neu einnisten muss. Und dabei dringt man so tief in die eigene Sprache ein, wie man es sich nie hätte träumen können. Ich kann mir kein besseres Exil vorstellen: durchfremdet zu werden von anderen Sprachen, anderen Epochen, von der MundArt der Poesie mit ihrer frappanten Zauberspruchmentalität.
Dankbarkeit der Fliehenden gegenüber, der Poesie. Ich habe das Glück, so viel guter Poesie begegnet zu sein. Aber eigentlich braucht es gar nicht viel, nur eine Handvoll Gedichte von ein paar wenigen Poeten. Manchem Stück, das mein Leben bereichert hat, habe ich herübergeholfen in die deutsche Sprache, manches Gedichtfragment auch in meine Romane geschmuggelt. Die Fliehende, die klingende Exilantin, die Zunge und Ohr hat, ist auch eine exquisite Schmuggelware. Und das Wenige genügt. Poesie ist das Gefäß, das im Wenigen viel mehr enthält, als uns lieb sein kann, als wir uns hätten träumen lassen. Mit dem Wort Dankbarkeit zu enden ist eine wunderbare Pflicht.
Langfassung unter: derstandard.at/kultur Es handelt sich bei diesem Text um eine stark gekürzte Fassung der Rede, die Ralph Dutli am 25. November (11 Uhr) im Wiener Literaturhaus hält. Die Laudatio hält die alleinige Jurorin Beatrice von Matt.
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