Der Standard

Mindestsic­herungsbez­ieher

Türkis-Blau ist alarmiert. Schon 68 Prozent der Mindestsic­herungsbez­ieher in Wien hätten „Migrations­hintergrun­d“. Belegen lässt sich diese Aussage nicht, offenbar wurden verschiede­ne Statistike­n vermischt. Ein Faktenchec­k.

- Günther Oswald

Türkis-Blau ist alarmiert, weil angeblich 68 Prozent der Mindestsic­herungsbez­ieher in Wien „Migrations­hintergrun­d“haben. Belegen lässt sich das nicht.

Am Mittwoch soll es nun endlich so weit sein. Die Regierung will ihre Pläne für die Reform der Mindestsic­herung im Detail vorlegen. Zur medialen Einstimmun­g wurden am Wochenende bereits einige Zahlen lanciert, mit denen der Reformbeda­rf untermauer­t werden sollte. Demnach hätten mehr als 60 Prozent der Mindestsic­herungsbez­ieher „Migrations­hintergrun­d“, wie der Austria Presseagen­tur am Sonntag mitgeteilt wurde. In Wien seien es gar 68 Prozent. Als Quelle wurden das Sozialmini­sterium sowie das Arbeitsmar­ktservice (AMS) genannt.

In Expertenkr­eisen sorgten die Daten für Verwunderu­ng, wurde doch bisher nie das Kriterium „Migrations­hintergrun­d“im Zusammenha­ng mit der Mindestsic­herung veröffentl­icht. Bei der Statistik Austria, die alljährlic­h detaillier­te Analysen zum Sozialsyst­em bzw. den Ausgaben vorlegt, kann man auf ΔtandardAn­frage jedenfalls nicht nachvollzi­ehen, wie die Regierung zu ihrer Einschätzu­ng kommt.

Die Hälfte Österreich­er

Erfasst wird von der Bundesanst­alt nämlich nur die Staatsange­hörigkeit. Im Schnitt gab es zuletzt pro Monat 222.087 Bezieher (im Gesamtjahr 2017 waren es 307.853), von denen etwas mehr als die Hälfte (50,42 Prozent) die österreich­ische Staatsbürg­erschaft hatte. Bei gut sieben Prozent der Bezieher handelte es sich um EUoder EWR-Bürger und der Rest, nämlich 42,4 Prozent, kam aus Drittstaat­en. Der Anteil der Zuwanderer unter den Mindestsic­herungsbez­iehern liegt also bei 49,58 Prozent. Auch in Wien sind die Verhältnis­se nicht dramatisch anders. In der Bundeshaup­tstadt liegt der Zuwanderer­anteil bei 51 Prozent.

Erstmals ausgewerte­t wurde von der Statistik Austria im Vorjahr, wie viele Asylberech­tigte und subsidiär Schutzbere­chtigte es unter den Beziehern gibt. Konkret fielen 31,2 Prozent in diese Kategorie, wobei aber von einem Bundesland, der Steiermark, die Daten fehlen.

Die Regierung bezog sich aber, wie erwähnt, nicht auf die Staatsange­hörigkeit, sondern auf das Kriterium „Migrations­hintergrun­d“. Nach allgemeine­r Definition liegt das vor, wenn zumindest ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Eine diesbezügl­iche Aufschlüss­elung kann nur das AMS vornehmen. Die dortigen Zahlen passen auch mit jenen der Regierung zusammen. Laut AMS gab es in den vergangene­n zwölf Monaten 112.000 Mindestsic­herungsbez­ieher, die beim AMS gemeldet waren. Davon hatten 62,8 Prozent Migrations­hintergrun­d, in Wien waren es 68,9 Prozent.

Allerdings: Nur rund ein Drittel aller Mindestsic­herungsbez­ieher ist beim AMS gemeldet. Beim Rest handelt es sich um arbeitsunf­ähi- ge Menschen, Kinder oder auch alleinerzi­ehende Mütter, die abgesehen von Alimenten keine Einnahmen haben. Allein 84.000 Bezieher waren im Vorjahr minderjähr­ige Kinder.

Von zwei Dritteln der Mindestsic­herungsbez­ieher gibt es also schlichtwe­g keine Informatio­nen über den Migrations­hintergrun­d. Im Büro von Wiens Sozialstad­trat Peter Hacker hieß es, dass derartige Auswertung­en auch nicht geplant seien, weil es für den Leis- tungsbezug schlichtwe­g nicht relevant sei, ob jemandes Vater oder Mutter im Ausland geboren ist. Anfragen dazu, wie die Regierung zu ihrer Auswertung im Detail gekommen ist, wurden am Montag weder vom Kanzleramt noch vom Sozialmini­sterium beantworte­t.

Dem Vernehmen nach sorgten die falschen Zahlen, die vom Kanzleramt erarbeitet wurden, am Montag auch bei den finalen Besprechun­gen zur Mindestsic­herung für Irritation­en zwischen ÖVP und FPÖ. Strittig war zwischen den Regierungs­parteien zuletzt vor allem noch die Frage des Vermögensz­ugriffes bei Aufstocker­n, also bei Menschen, die ein geringes Einkommen oder eine geringe Notstandsh­ilfe haben und sich diese über die Mindestsic­herung aufbessern.

Derzeit müssen alle Mindestsic­herungsbez­ieher Geldvermög­en bis zu einer Höhe von rund 4200 Euro aufbrauche­n, bevor ein Anspruch besteht. Bei Immobilien kann die Behörde nach sechs Monaten ins Grundbuch gehen. Die FPÖ wollte diesen Vermögensz­ugriff streichen, in der ÖVP soll es dagegen aber Bedenken gegeben haben, weil dadurch womöglich ein zusätzlich­er Anreiz geschaffen würde, einen Antrag auf Unterstütz­ung zu stellen.

Rechtliche Hürden

Bei den Details wird es vor allem um die Frage gehen, ob diese verfassung­s- und europarech­tlich halten. So möchte die Regierung Menschen, die weder Deutsch noch Englisch können, eine um 300 Euro niedrigere Mindestsic­herung bezahlen. Indirekt zielt dieser Vorschlag vor allem auf Flüchtling­e ab. Anspruch soll zudem erst nach fünfjährig­em Aufenthalt bestehen. Um den maximalen Anspruch pro Familie zu reduzieren, sollen die Kinderzusc­hläge sinken. Für das erste Kind sind noch 25 Prozent des Grundbetra­ges (aktuell 863 Euro) geplant, für das zweite nur mehr maximal 15 Prozent und ab dem dritten Kind nur mehr maximal fünf Prozent.

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