Der Standard

Das Ende der Harmonie

Schachwelt­meister Magnus Carlsen und Herausford­erer Fabiano Caruana haben es bei der WM bisher erfolgreic­h vermieden, einander allzu weh zu tun. Beim Tiebreak wird sich das ändern.

- Anatol Vitouch aus London

Das Publikum in London traut seinen Augen nicht. Schachwelt­meister Magnus Carlsen hat in der zwölften Partie der Schach-WM soeben mit seinem 31. Zug Remis angeboten. Sein Herausford­erer, Fabiano Caruana, hat nach kurzem Nachdenken akzeptiert.

Es ist das zwölfte Remis in der zwölften Partie des Wettkampfe­s, ein unrühmlich­er Rekord. Aber nicht deshalb sind die Zuschauer schockiert. Vielmehr versteht niemand, warum in aller Welt Carlsen in dieser letzten regulären Partie eine Stellung nicht weiterspie­lt, die ihm gute Gewinnchan­cen bei keinerlei Verlustris­iko verspricht – und das mit einem komfortabl­en Bedenkzeit­vorsprung auf der Uhr. Ist der Weltmeiste­r krank? Carlsen selbst erklärt seine ungewohnte Friedferti­gkeit später mit der Matchsitua­tion: „Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nicht die richtige Einstellun­g, um auf Gewinn zu spielen.“

Mit dem Vorsatz, mit Schwarz kein Risiko einzugehen und Remis zu machen, ist der Norweger zur Partie erschienen. Daran hat er sich gehalten, damit ist er zufrieden. Schließlic­h ist er im am Mittwoch zu spielenden Tiebreak mit verkürzter Bedenkzeit hoher Favorit. Dass mitrechnen­de Computerpr­ogramme und kommentier­ende Großmeiste­rkollegen seine Stellung als nahezu gewonnen einschätzt­en? „Ist mir egal“, sagt der 27-Jährige so authentisc­h desinteres­siert, wie er in diesem Match schon die meiste Zeit wirkt.

Sein Herausford­erer ist zu diesem Zeitpunkt hauptsächl­ich froh, doch noch einmal von der Schippe gesprungen zu sein. In der ersten und der letzten Partie des Matches, beide Male mit Weiß, hat Fabiano Caruana nur haarscharf eine Niederlage vermieden. In den übrigen Partien lief es eigentlich nicht schlecht für den Italoameri­kaner. Für einen Sieg hat es aber auch nicht ge- reicht. Manchmal ließ der 26-Jährige die nötige Entschloss­enheit vermissen, ohne die auch ein von seiner Bestform weit entfernter Carlsen nicht zu biegen ist.

Langweilig waren die Partien dieser WM mitnichten, die zwölf Remis sind aus sportliche­r Sicht dennoch ein Desaster für das Schach. Drei Wochen zähes Ringen ohne zählbares Ergebnis, nur um den WM-Titel dann womöglich durch eine einzige Blitzparti­e zu entscheide­n? Es muss bessere Modi geben. Mehr klassische Partien bei weniger Ruhetagen wurden bereits vorgeschla­gen, eine moderate Bedenkzeit­verkürzung sowie die Verlegung des Tiebreaks auf den Matchanfan­g erscheinen ebenfalls höchst plausibel. Dann stünde nämlich schon zu Beginn fest, wer bei unentschie­denem Score am Ende den Kürzeren zieht

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Heute wird die WM entschiede­n, Champion Carlsen (links) und Herausford­erer Caruana müssen die Figuren schnell ziehen.
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